Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Anita Grüneis · 29. Okt 2020 · Theater

Zur verschobenen Premiere von „Suchtmensch“ im Gasometer Triesen: Ein Mann, eine Maschine und ein Lied

Der Gasometer in Triesen, FL, ist ein Raum, der 1863 zur Baumwollweberei Kirchthaler-Dürst gehörte. Mit dieser Fabrik wurde Triesen zum Fabrikdorf. Nun aber macht darin ein Mann seinen letzten Rundgang, um die Leistung seiner Maschine zu begutachten. Die Maschine läuft rund um die Uhr und sorgt so dafür, dass ein stabiler Druck auf die Gasleitungen des Ortes aufrechterhalten wird. Der Mann hat sich sein Leben gut eingerichtet, für ihn steht die Arbeit an erster Stelle, schließlich sichert diese ihm das tägliche Brot und so ist er eng mit seiner Maschine verbunden. Die Arbeit ist zwar manchmal öd und gerade in letzter Zeit geht sie ihm nicht mehr so leicht von der Hand. Er schläft seit Längerem schlecht, irgendetwas scheint nicht zu stimmen, er hat das Gefühl, dass etwas geschehen muss.

Reales und Fiktives

Und es wird auch geschehen, denn der Gasometer ist real, der Mann ein Schauspieler. Sascha Jähnert wird den Mann verkörpern, der täglich seine Maschine wartet und dann plötzlich eine Überraschung erlebt. Das neue Stück von Andreas Jähnert, dem Bruder von Sascha, heißt „Suchtmensch“. Es entstand in Zusammenarbeit mit Ula Lazauskaite, Schauspielerin und Journalistin. Sie hat mit Andreas Jähnert das Konzept entwickelt, mit Ideen und Anregungen zum Stück beigetragen und die Produktionsleitung übernommen. Die Geschichte des Werks Suchtmensch“ hatte ihren Ursprung aber weit weg von Liechtenstein – in Kambodscha. 

Von der Maschine zum Menschen

Dort weilte Andreas Jähnert für sein jüngstes Theaterprojekt „FENCE“ (entstanden in Zusammenarbeit mit dem theater der sprachfehler und dem Zirkus Phare Ponleu Selpak) fast drei Monate. Dabei wurde ihm bewusst, dass sich die Menschen in diesem Land noch füreinander Zeit nehmen. Nicht die Arbeit steht im Mittelpunkt des Lebens, sondern der andere Mensch. „Daran musste ich mich erst gewöhnen“, sagt er.
Im gleichen Zeitraum las Ula Lazauskaite in Schaan einen Artikel von Klaus Ehrhart über die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Privatleben. In diesem Artikel wird das Ende der Freiheit durch die effiziente Lebensführung prophezeit. Sie selbst meint dazu: „Eine solche freiwillige Aufgabe der eigenen Privatsphäre und der Selbstoptimierung wäre im vergangenen Jahrhundert ein Traum sowohl im faschistischen als auch im kommunistischen System gewesen.“
Bei einem Telefonat mit Andreas Jähnert entstand dann die Idee für ein Projekt über das Erlebte und Gelesene.  

Der Suchtmensch und seine Maschine

Zum Inhalt: Ein Mann fährt jeden Tag nach Liechtenstein zur Arbeit. Diese besteht darin, eine Maschine zu warten. An sich ist der Mann Ingenieur, aber sein Fachwissen wird bei seiner Tätigkeit kaum je gebraucht. So gewöhnt er sich an den Alltagstrott, er kennt die Geräusche der Maschine und ihren Rhythmus, alles ist ihm bestens vertraut und er kann sich während der Arbeit wegträumen – zum Beispiel auf dem Handy oder dem Tablet surfen. Doch dann kommt die Maschine eines Tages aus dem Takt, was den Mann völlig verunsichert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sein Versuch, sie mit seinem erlernten Wissen zu reparieren, schlägt fehl. Je mehr er versucht, alles wieder zurechtzubiegen, desto weniger gelingt es ihm. Er verzweifelt, denn er ist gewohnt, dass die Sachen nach seinem Willen laufen. Zudem merkt er, dass seine Fähigkeiten von der Maschine übernommen wurden.
„Er ist vom Wartenden zum Wächter geworden“, so Andreas Jähnert, „er strengt sich total an und hat furchtbare Angst, Fehler zu machen. Er versteht nicht, dass sein Objekt, mit dem er tagtäglich zusammen ist, sich nun anders verhält. Die Maschine ist sein Produkt, zu dem er immer wieder flüchtet, das ist seine Ecke, die er kennt, in der er sich sicher fühlt. Das ist seine Arbeit, die ihn immer bestätigt hat.“ Und Ula Lazauskaite fügt hinzu: „Die Maschine ist auch eine Parallele zu einer Art Industrialisierung der Gefühle, die mit der Digitalisierung einhergeht. Als er merkt, dass sich der Rhythmus ändert, bringt ihn das aus der Fassung, weil er will, dass es so läuft wie immer.“  

Die Fremdheit in Schuberts Winterreise 

Da steigt aus der Maschine eine Frau hervor. Oder ist es doch ein Roboter? Sie singt aus Schuberts „Winterreise“: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“. Doch der gewohnte Rhythmus gerät aus dem Takt, plötzlich fehlen die Vokale und der Text lautet nur noch: „N Strrr msss ch ghnnn, d nnnn knnrr gng zrrrrck.“ Der Mann glaubt, dass diese Erscheinung ein Teil der Fehlermeldung sein muss und, dass es seine Aufgabe ist, sie zu verstehen und wieder „in Ordnung“ zu bringen.
„Dabei setzen wir uns auch mit Schuberts Winterreise auseinander“, sagt Andreas Jähnert, „wir versuchen, sie szenisch umzusetzen und fragen uns, was steckt in diesem Werk, wie lässt sich das vermenschlichen?“ Die Sängerin löst sich u. a. vom klassischen Schubert-Lied, bricht aus, emanzipiert sich, entdeckt ihre Freiheit, taucht über Jazz- und Soul bis zum Popbereich ein. „Durch die Befreiung vom Rhythmus und Takt, den Schubert vorgibt, kommt sie in das Gefühl, dass sie etwas richtig macht. Sie wird eigenständig, entdeckt eine Welt, die sie als Gefangene nicht entdecken konnte“, so Andreas Jähnert weiter, „und der Mann versucht, der Frau zu imponieren: Er spricht in Werbeslogans mit ihr, versucht lustig zu sein und tut alles, um vor ihr zu verheimlichen, dass er in Wahrheit noch nie jemanden sein Herz geöffnet hat.“ Doch Mann und Frau sprechen aneinander vorbei, für die Beziehung gibt es eben keine Gebrauchsanweisung.

Alles unter einer Pyramide

In die Handlung wurde noch eine dritte Person eingebaut, eine Tänzerin. Sie ist eine Beobachterin, nimmt alles nonverbal wahr und setzt es in Bewegung um. Im Zentrum aber steht die Maschine, und da Maschinen heutzutage voller Symbole und Zeichen sind, und nach Algorithmen funktionieren, hatte Andreas Jähnert die Idee, das Bühnenbild als eine Art Pyramide zu gestalten, auf die sich gut projizieren lässt. Zudem lehnen sich die Kostüme an Militäruniformen an und symbolisieren jeweils den Zustand der Bewachung.
Der Schluss des Stücks „Suchtmensch“ ist noch offen. „Vielleicht bleibt der Mann in seiner fiktiven Welt gefangen. Das klingt nun ein bisschen platt – aber die Menschen finden ja nicht wirklich zueinander“, meint Andreas Jähnert.

„Der Suchtmensch“ von Andreas Jähnert und Ula Lazauskaite
Premiere (ursprünglich geplant für 24.4.): 5.11., 20 Uhr
weitere Vorstellung: 8.11., 18 Uhr
Gasometer, Triesen (FL)
www.gasometer.li