Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Jürgen Schremser · 27. Aug 2020 · Theater

Vor der Premiere: Des Aktionstheaters „Bürgerliches Trauerspiel“ - Corona-Biedermeier

Auch für das Aktionstheater gibt es ein Comeback nach der gesundheitspolitisch verordneten Kontaktsperre und dem Rückzug in die Häuslichkeit. Mit der Produktion „Bürgerliches Trauerspiel“ widmet sich das vielgelobte freie Ensemble unter Regisseur Martin Gruber den Irrungen und Wirkungen sensibler (Künstler-)Seelen in krisenhaften Zeiten. Kein „Corona-Stück“, aber eines, in dem die Erfahrung des eben überstandenen Ausnahmezustands unter einem noch nie da gewesenen Gesundheitsregime mit verarbeitet wird. Jürgen Schremser sprach mit Regisseur Martin Gruber und Dramaturg Martin Ojster während laufender Proben in Wien.

Unter den – mittlerweile gelockerten – Bedingungen der Kontaktsperre hatte sich auch die darstellende Kunst des Aktionstheaters auf eine andere, digital gefilterte Form der Präsenz besonnen. Von der direkten Publikumsverbindung abgeschnitten, improvisierte das thematisch reaktionsschnelle Theater eine Kunstversorgung, die aus der ökonomischen und ästhetischen Not noch eine Tugend machte. Unter dem Titel „Streamen gegen die Einsamkeit“ wurden Aufzeichnungen von insgesamt 17 Ensemble-Produktionen sukzessive online gestellt und fanden reiche Nachfrage. Ob dieses Videoangebot auch unter weniger dramatischen Umständen konsumiert worden wäre? Die Aufzeichnungen existierten ja, ebenso wie die Streaming-Tools, und für manche, gerade jüngere Leute im Kunstpublikum oder jene, die man großzügig der „kreativen Szene“ zurechnen kann, waren „Home Office“ und „Streaming“ durchaus vertrautes Gebiet. Wenn auch nicht für eine lange kontinuierliche Zeitstrecke. Von neuer Qualität war freilich der ökonomisch bedrohliche Publikumsentzug für eine letztlich auf Veranstaltungseinkünfte angewiesene, ansonsten brotlose Kunstproduktion. Die schöpferische Produktivität ging derweil weiter, auf die Lebensumstellung aus Klugheitsgründen folgte die Reflexion auf die zivilen Tugenden der solidarischen weil infektionseindämmend distanzierten Selbstbeschäftigung. Wohl dem, der da eine „liebe Familie“ hatte, andere Wohngemeinschaften waren unverträglicher. Das Corona-Biedermeier war mindestens doppelgesichtig: schützend und schonungslos, angstbesetzt und technokratisch. Auf das Oszillieren zwischen diesen Spannungsmomenten richtet „Bürgerliches Trauerspiel“ einen persönlichen, tragikomischen Blick. Für Regisseur Gruber geht es dabei weniger um die besonderen Umstände des sogenannten Lockdown als darum, was die Krise „wie in einem Brennglas“ (Gruber) an längst schwelenden Missständen und Sinndefiziten unserer „Normalität“ bloßgelegt hat. Wollen wir wirklich dahin zurück? Die erste Probenphase des Aktionstheaters lief noch über „sichere“ Videokonferenzen und via Einzelproben. Mittlerweile ist man wieder im Reich und Reiz des Analogen gelandet und freut sich auf das unmittelbare Erleben der eigenen Darbietung.

Auf der Bühne: eine persönliche, intime Form der Verzweiflung

Jürgen Schremser: Ich habe bei diesem „Krisenstück“ den Eindruck, dass ihr vor dem Hintergrund eines künstlerisch schwer zu überbietenden, von niemandem vorhersehbaren Ausnahmezustands „Pandemie“ die Konzentration nicht verlieren dürft, bei all dem Unübersehbaren und Widersprüchlichen an Informationen und Interessen?
Martin Gruber: Deshalb war es von Anfang an bei der szenischen Umsetzung klar, als sich das Thema „Virus“ aufdrängte, dass wir jede Form eines Seuchenrealismus vermeiden werden. Es genügt auf unserer Bühne eine persönliche, intime Form der Verzweiflung und des Halt-Suchens angesichts einer prekären Welt, die sich schon vor der Pandemie für viele als ungerecht, undurchschaubar und unverlässlich erwiesen hat.
Schremser: Die Textvorlage oder eigentlich Partitur – ich lese hier sowohl Sprechtext als auch minutiöse choreografische Anweisungen – blüht vor manischen, betulichen und sentimentalen Umkreisungen des eigenen Befindens. Am Ende erscheint Bürgerlichkeit als eine unablässig ich-bezogene Suche oder ein Abklappern von Sinn-Angeboten, die vor allem in der Erinnerung einen verklärten Glanz bekommen. Ist es ein Abschiedsstück, eine Totenfeier?
Gruber: Jedenfalls ein Abschied von Illusionen und Staffagen des Bürgerlichen. Wie etwa die Wertschätzung soliden ökonomischen Haushaltens oder staatsbürgerlicher Gleichberechtigung. Jetzt macht eine epidemiologisch begründete Einschränkung freier Wirtschaftstätigkeit offenbar, dass in vielen Unternehmen immer schon sehr prekär und knapp kalkuliert wurde, es gibt keine Rücklagen, außer gesetzlich erzwungen. Und von der Egalität ganz zu schweigen. Wer darf mehrheitlich für das Gelingen des Homeoffice die notwendige Basisarbeit mit Kochen und Kindern leisten, na …?
Martin Ojster: Wir landen wieder sehr schnell bei Aristoteles und dem guten alten Oikos, den Sklaven und Frauen im Schuss halten, damit die Männer in der hehren Polis ihren großen Gedanken nachhängen können.
Schremser: Die Thematik des „Bürgerlichen“ als Wertekanon oder Mentalität verfolgt Ihr schon länger. Und immer geht es dabei auch unvermeidlich um das Theater als – ja nachdem – historischer Spiegel, Medium und Tempel des Bildungsbürgertums – das alles lange vor der Corona-Krise, nicht?
Gruber: Tatsächlich haben wir uns seit letztem Jahr unter dem Eindruck populistischer Stimmungsmache und eines Revivals des Autoritären – also etwa mit „Heile mich“ oder „Swing“ – mit der Zersetzung dessen befasst, was einmal seit 1789 liberale und kosmopolitische Bürgerlichkeit inspiriert hat. Und der Arbeitstitel „Bürgerliches Trauerspiel“ war uns sehr recht, da er historisch Aufstieg und Selbstbeschäftigung der emanzipierten Bürger*innen abbildet, bis zur weinerlichen Stilisierung als Opfer von Konsumbegrenzungen und eines kaum zu verkraftenden Entzugs von Kunsterlebnissen – die Frage, ob die Salzburger Festspiele in diesem Jahr noch stattfinden können, lastete ja schwer über der Nation.

„Es gibt eine verbreitete Sehnsucht nach dem Ständischen ...“

Schremser: Aus der Emanzipationsbewegung ist eine Fluchtbewegung geworden, im Sinne der Flucht vor Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in eine sensible Opferrolle?
Ojster: Wir sehen nicht nur die Verwässerung oder Verbrauchtheit dieser Werte – dann könnte man sie ja kritisch einmahnen. Sondern es geht um eine totale Schieflage oder sogar Umwertung. Wenn es etwa stimmt, dass die Bildungsreform der 1970er gerade an die vier Prozent mehr Studienabgänger ermöglicht hat und im übrigen vor allem die bereits gebildeten Schichten ihre Kinder an die Unis bringen. Dann könnte ja der Gedanke sein: Wir korrigieren das. Ganz im Gegenteil wird Wert auf Sicherstellung einer Karriere in Elitepositionen gelegt, durch die richtige Schulselektion von Anfang an.
Gruber: Es gibt eine verbreitete Sehnsucht nach dem Ständischen, nach einer Hierarchie, die uns Orientierung gibt und zumindest als gebildeter Rückbezug auf Klassiker vor der Nähe zur Armut schützt.
Schremser: Eine Sehnsucht, die bei Euch etwa in „Swing“ durch Tanzschritte unter einem Tanzmeister ästhetisch vermittelt wird.
Gruber: Und in dieser Produktion beispielsweise durch ein nostalgisches Bildungszitat aus einem Schnitzler-Stück, in dem die Welt von damals anklingt.
Schremser: Mit allen Freiheiten der Erinnerung. Man muss den Film einfach bei 1914 anhalten. Dieser Rückfall in die Ständische Ordnung würde ja das Bürgerliche Trauerspiel definitiv aufheben! Die Gattung hat doch den Eintritt des Bürgertums in den gleichberechtigten gesellschaftlichen Verkehr begleitet.
Ojster: Und war zugleich eine Kritik des Adels, dem bis dahin die großen Rollen vorbehalten waren.
Schremser: Für Bürgerliche galt die arrogante „Ständeklausel“, dass sie zu wirklich tragischem Erleben gar nicht imstande seien!
Gruber: (lacht) Wie man sich so täuschen konnte! Allerdings ist der Abschied der bürgerlichen Figuren mindestens so geräuschvoll wie ihr Auftreten seinerzeit!

Dieses Interview ist bereits in der Juli/August-Ausgabe erschienen.

Aktionstheater Ensemble: „Bürgerliches Trauerspiel – Wann beginnt das Leben“
Koproduktion Landeshauptstadt Bregenz/Bregenzer Frühling; Landestheater Linz; in Kooperation mit Werk X

Regie, Skript, Choreografie: Martin Gruber | Text: Martin Gruber, Ensemble, Wolfgang Mörth | Dramaturgie: Martin Ojster, Andreas Erdmann| Musikalische Leitung: Kristian Musser | Bühne, Kostüme: Valerie Lutz | Regieassistenz: Tanja Regele, Hacer Göcen | Darsteller*innen, Musiker*innen: Michaela Bilgeri, Horst Heiß, Thomas Kolle, Benjamin Vanjek, Nadine Abado, Kristian Musser, Alexander Yannilos

Premiere: Mi, 2.9., 20 Uhr
weitere Vorstellungen: 3./4./5.9., 20 Uhr
Theater Kosmos, Bregenz