Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Niedermair · 16. Jul 2020 · Theater

RHEINDORF – Ein theatraler Spaziergang

Eine Produktion von walktanztheater.com in Kooperation mit der Marktgemeinde Lustenau / W*ORT Lustenau / Culture Factor Y / 2020 feierte Premiere am letzten Dienstagabend. Das Stück ist großes Theater. Ernst und heiter, inhaltlich in die Tiefe schürfend, radikal offen, sehr kritisch, eine gut strukturierte dramatische Konstruktion und sachlich klare bis berührend poetische Textierung in den monologischen und dialogischen Teilen, soziographisch gut recherchiert, umfassende Themenvielfalt, nicht beschönigend, das Fremde (im Sinn von L. Irigaray und H. Arendt) respektierend und integrierend, offen, witzig, lässig, stilsichere Regie, ausgefallene verzaubernde Kostümierungen, coole Musik von der türkischen Combo, schauspielerisch und sprachlich überzeugend, einzigartig, zart und poetisch. Eine Liebeserklärung ans Rheindorf.

Das Panoptikum der Alltagsfragen

Zur Sprache kommt ein Panoptikum aktueller Fragen, zu denen ausführliche Interviews gemacht wurden. „Rheindorf“ thematisiert in diesen 120 Minuten eine Fülle an ortsbezogenen Daten, Zahlen und Fakten und produziert dabei in den Köpfen der Spaziergänger*innen - darunter Einheimische, Frömde, Rheindörfler, Zugezogene, Migranten, Ein- und Auspendler, Menschen aus 80 Ländern - das Entstehen individueller und kollektiver fiktionalisierter Landkarten und Bilder dieses historisch ältesten Teils der Marktgemeinde Lustenau. Thematisch reicht das Panorama von den gewöhnlichen Alltagsfreuden und -nöten von Kindern und Jugendlichen, Alleinstehenden, alten Bewohnern wie Frau Brändle, über die Vereinnahmung des öffentlichen Raums, der anbiedernde Gemeinderat, das intensive Einschotten und Umzäunen der Privaträume, das Abschotten und Sichtversperren gegenüber Nachbarn, der Rückzug ins Private, die menschenleeren öffentlichen Räume, das Public Nowhere Land … bis hin zu Menschen, die hier leben, über sich und über Erfahrungen aus dem Alltag erzählen. Über die Mindestsicherung für Kinder bis 11 Jahren, über die schier endlose Zahl an Fahrrädern, über die Anzahl der Eier, die täglich im Rheindorf gegessen werden … von skurril bis unglaublich, von normal bis schräg.
Das Ensemble tritt in drei Hauptszenen mit Sprechtheater an drei unterschiedlichen Spielorten auf, Guides lotsen das Publikum spazierend durch das Lustenauer Rheindorf, man beginnt Corona gewappnet auf dem Vorplatz der VS Rheindorf, geht hinüber zum Pfarrsaal Rheindorf, dort indoor die erste Szene, ein starker spielerischer Auftakt, der das Bauprinzip des Stücks sichtbar macht; weiter geht es mit einem Zwischenstopp mit Performances in der Hostatt, wo die jugendlichen Akteur*innen auf langbeinigen Hochsitzen bewegungsartistisch balancieren oder wie bengalisch-syrische Katzen durch das Gras gumpen. Alle weiteren Spielorte sind open air. Dort werden uraltbekannte Lustenauer Lullubys ebenso zum Besten gegeben wie Reime und Sprüche wie der vom „Papscht, dear‘s Bschteck zschpot bschtellt heat“. – Die große lange Tafel vor der Culture Factory, an der 16 Spieler*innen Platz genommen haben, assoziiert in ihrem stufenförmigen Aufbau und der bunten Vielfalt ironisierend Andy Warhols „Last Supper“ und ist der Ort, an dem eine der zentralen Grundthematiken zur Sprache kommt. Die Gastarbeiter, jene, die man heute als die „…. mit migrantischem Hintergrund“ tituliert, was mir jedes Mal die Haare am Rücken aufstellt.   

Wenn ich an Lustenau denke

Wenn Mareike, die türkische Migrantin, verheiratet mit Mustafa, von dem sie im 6. Monat schwanger deren beider zweites Kind erwartet, am Beginn der zweiten Szene sagt: „Als ich nach Lustenau gekommen bin, hab ich mir gedacht: Was ist das hässlich. Ich meine: Der Verkehr und der Lärm und die schlechte Luft. Ich hab mich schon gefragt, wie wir, also mein Mann und ich, es zulassen können, an einem Ort wie diesem Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen. Mein Mann behauptet, jetzt gehe es schon ein bisschen besser, wir hätten uns inzwischen ‚gesettelt‘“, dann meint sie mit den äußeren Kennzeichen wie Luft und Lärm auch eine innere Befindlichkeit, wie sich Menschen, die neu ankommen, fühlen. Das geht allen hier so, die neu sind, egal von woher. Aus Dornbirn, Andelsbuch oder Nenzing. So ging es den Südtirolern, den Zuwanderern aus dem vorigen Jugoslawien, aus Anatolien. Wie es den syrischen Menschen auf der Flucht in Lustenau in manchen Alltagsszenen heute geht, schreibe ich hier, weil es so zutiefst beschämend ist, besser nicht auf. Mustafa, Mareikes Gatte, dekliniert ein paar Augenblicke später die Litanei der Kopfverrenkungen um den Begriff des Gastarbeiters. Und Mustafa: „Manchmal kommt mir auch gar nichts in den Sinn, wenn ich über Lustenau nachdenke. Dann ist Lustenau so nah, dass ich gar nicht die richtige Distanz dazu finde. (…) Über Lustenau lässt sich gut sprechen, wenn es auf einer Landkarte liegt.“ In diesem faszinierend arrangierten szenischen Dialog von Mareike und Mustafa wird die gesamte Dimension von fremd und fremd bleiben, von ankommen und nicht heimisch werden, deutlich und man merkt das daran, dass man nach Jahrzehnten dieses Thema noch wahrnimmt; das würden zwar die allermeisten, die schon immer hier waren, aber doch auch von irgendwoher gekommen sind, früher einmal, ziemlich verlässlich verneinen. Dabei geht es nicht um die Triphthongierung (die Entwicklung zu Dreilauten) aller gedehnten westschwäbischen Diphthonge; auf Lustenau beschränkt z. B. ist die Form Äüoli (= Ei). „Der besondere Klang der Lustenauer Mundart beruht auf der ungemein starken Rhythmisierung des Redens, die zusammen mit der besonders bildhaften Sprache ungewöhnliche stilistische Effekte gebiert.“ (Arno Ruoff/Eugen Gabriel: „Die Mundarten des südlichen Unterlandes“, 2008, zit. aus: Lustenau Lesebuch, hrsg. Von Oliver Heinzle und Wolfgang Scheffknecht, unartproduktion, Dornbirn, 2011, S. 245). Es geht um das Wir und die Anderen.

Großes Theater über die Landkarten im Kopf

Im rückwärtigen Teil der Factor Y hören wir zunächst im türkischen Original eines der schönsten Gedichte von Nazim Hikmet, danach auf Deutsch. Das ist ein stark optisch-sinnlicher Abschnitt, ganz reduziert auf den genuinen Ort, an dem dieses Gedicht in den beiden Sprachen vorgetragen wird, die Rampe, mit Blick auf die Wiese und hinüber zum letzten szenischen Ort, dem dritten, im hinteren Gartenpark bei der VS Rheindorf. Hier werden, segmentiert in vier nebeneinander gelegene Auftrittsorte, von vier Gruppen des gesamten Ensembles, eine Fülle von soziografischen Daten und Fakten präsentiert. Hier wird das grundlegende Strukturprinzip des Stücks noch einmal deutlich. „Welche Sichtweisen man erzählt bekommt, hängt davon ab, wer gefragt wird: junge und alte Menschen, Männer und Frauen, mit und ohne Migrationsgeschichte, beantworten die Frage, was für sie das Rheindorf ist, jeweils sehr verschieden. Sie alle haben eigene Landkarten im Kopf, in denen sie sich und andere verorten.“ Das Rheindorf, wie alle anderen Parzellen, von denen das Rheindorf die älteste ist, ist für sich eigen und doch verschieden von den anderen. Wie überall. Die Geschichte wie auch die Geschichtsgeschichten sind zum Teil parallel und ähnlich, zum andern können sie sehr voneinander variieren. Das Stück mit dem Text von Amos Postner in der Regie von Brigitte Walk macht das Lokalspezifisch-Örtliche des Rheindorf in der Konfrontation mit dem Utopisch-Gedachten, jenem Land des Ort-losen des Rheindorfs zu einem gedanklich-emotionalen Laboratorium, einem Gefüge aus Raum und Zeit, aus individuell-narrativem und kollektiv-gesellschaftlichem Erinnern. Die epische Fülle und Komplexität des Rheindorfs ist – wie eingangs bereits angedeutet – ein realer wie gesehnter, ein geträumter wie erhoffter Raum, ein Ort der Sehnsüchte und Selbstvergewisserungen. Und es hält noch, wie das übrige Lustenau auch, viele offenen Fragen bereit. Und eigentlich ist es das Nichtperfekte an Lustenau, dass zum Beispiel jahrelang über bestimmte Themen geredet wird, Konzepte erstellt und Pläne geschmiedet werden, immer neue und immer mehr. Und – auch auf lange Sicht – vieles nie verwirklicht wird. Doch gerade dieser Aspekt macht Lustenau so menschlich, zutiefst menschlich, weil nicht perfekt. Es gibt dem Ort eine unbeschwerte Leichtigkeit, um alle die anspruchsvollen und schwierigen Ereignisse und Themen überhaupt zu ertragen.

Eine Liebeserklärung ans Rheindorf

Brigitte Walk ist wieder ein großer Wurf gelungen, nicht der erste. Mit diesem Stück „Rheindorf“ ein ganz verdichteter, poetisch großartiger Wurf; inhaltlich gesehen ein Stück Welttheater. Dem Ensemble mit über 50 Mitwirkenden ist zu gratulieren. Sie alle sind die Übersetzerinnen und Übersetzer, mit ihren Gesten und ihrer Sprache. Mein Schwiegervater, Linus Alge, Tierarzt aus der Schmiedgasse, hat nach dem Essen auf Besuch bei uns im Mähdle immer gesagt: „Da war es gut, da kommt man wieder!“ – Das muss an dieser Stelle auch der Marktgemeinde Lustenau gesagt werden und man darf zu ihrem klaren kulturpolitischen Engagement gratulieren. Lustenau verfügt über einen gar nicht attraktiven Kultursaal, den Reichshofsaal, stellt aber ständig neue Spielorte auf, die den Akteurinnen und Akteuren jene spielerische Freiheit (im Sinne von Friedrich Schiller: der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt) lassen, sich selbst zu verwirklichen. Walktanztheater macht das seit vielen Jahren mit großem Erfolg und beeindruckendem Besucherzuspruch. Wie andere auch, der Jazzclub, DOCK 20, die Galerie in der Pontenstraße, S-MAK, das neue Stickereimuseum oder das „Freudenhaus“, das Willi Pramstaller in diesen Tagen an Roman Zöhrer übergeben hat. 

RHEINDORF – Ein theatraler Spaziergang
weitere Vorstellungen:  17.7. / 18.7. / 20.7. jeweils 19.30 Uhr; Sonntag 19.7. um 18.00 Uhr
Treffpunkt: Volksschule Rheindorf
Wettertelefon: +43-(0)680-2428937