Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Peter Niedermair · 16. Apr 2022 · Theater

TO ALL TOMORROW’S PARTIES - Nico, Andy Warhol und die Factory

Im Großen Haus des Vorarlberger Landestheaters ging am Do, 14. April 2022 die Premiere eines Stückes über die Bühne, wie diese lange keine mehr gesehen hat … Wenn überhaupt. Man saß auf den Theatersesseln, als säße man in der Grand Central Station Ecke 42nd Street und Park Avenue und weinte nicht, sondern erlebte eine faszinierend-fesselnde Theater-Orgie der ganz coolen Sorte. Niklas Ritters Regie choreografiert das deutsche Modell Christa Päffgen alias Nico, die in der warholesken Welt die blond female front Sängerin der Velvet Underground gibt, Andy Warhols Band, die im Epizentrum des New Yorker Factory Superstars nicht nur den Sound der Pop Art angibt, sondern auch jenen die Kunstwelt nachhaltig verändernden Code begründet.

Nico, die glamouröse Sängerin, splittet Ritter, Regisseur des Stücks, in fünf mehrfach rollenwechselnde Schauspielerinnen, und inszeniert damit einen der wesentlichen Kunstgriffe Andy Warhols: das Stilmittel der Collage, die divers arrangierte Teile zu einem neuen Ganzen zusammenfügt. Das in Höchstform sprechend-singend-schreiend-flüsternd-akrobatisch atemberaubend agierende Schauspiel-Ensemble mit Vivienne Causemann, Maria Lisa Huber, Ines Schiller, Sebastian Schulze und Katharina Uhland wird angereichert vom supercoolen Live-Act-Sound der Songs von Lou Reeds 1964 gegründeten Velvet Underground – neben Lou Reed John Cale, Angus Mac Lise und Sterling Morrison – alias in deren Bregenzer Formation: Marcel Girardelli, Martin Grabher, Andreas Paragioudakis, Oliver Rath und Yenisey Rodriguez. Und da geht zwei Stunden und zehn Minuten dermaßen die Post ab, dass einem die Spucke wegbleibt und die Funken auf der Bühne die nächtlichen Sterne über dem Bodensee nur so spielerisch sprühen lassen und die Kostüme von Karoline Bierner zur von Oliver Rath arrangierten Musik im Licht von Arndt Rössler und Simon Tamerl, dramaturgisch einfasst von Ralph Blase, Kafkas bedeutendes Zitat von der „Hilfe“, die „aus Bregenz kommt“, zur unvergesslichen künstlerischen Realität werden. Velvet Underground gab es in variantenreichen Musiker-Kombinationen, auch als stilistische Collage, sie waren die künstlerisch-philosophische Soundverstärkung von Andy Warhols Pop Art; neben ihnen, wie David Bowie einmal gesagt haben soll, hören sich die Beatles des 1966er Jahres wie ein Pub-Band an.  

Pop Art und die Kunst des Andy Warhol

Andy Warhols Eltern waren Immigranten aus einem Dorf in den Karpaten im Nordosten der heutigen Slowakei, damals Königreich Ungarn. Andrew Warhola, der seinen Namen später amerikanisierte, war der jüngste von drei Söhnen, der 1928 in Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania geboren wurde. Im Alter von acht Jahren erkrankte Warhol an Cholera. Das bettlägerige Kind zeigte sehr früh eine besondere Leidenschaft für Comics und Kinofilme, zeichnete intensiv und collagierte Papierfiguren. In dieser Zeit entstand Andy Warhols starke Bindung an seine Mutter Julia, mit der er etliche künstlerische Projekte der Pop Art entwickelte. Von 1945 bis 1949 studierte Warhol Gebrauchsgrafik und machte einen Abschluss an der Carnegie Mellon University in Malerei und Design. Nach dem Studium ging er nach New York, das US-amerikanische Zentrum der Kunst, der Literatur und der Werbung. 1969 gründete er die legendäre Monatszeitschrift „Interview“, ein Life-Style Magazine, die aktuelle Ausgabe April 2022 hat 164 Seiten und besteht im Wesentlichen aus Features und Interviews von und mit Celebrities, Berühmtheiten aus Kultur, Kunst und Unterhaltung, der redaktionelle Anteil beträgt gerade mal knapp über 30 %, der überwiegend große Teil sind gewerbliche Anzeigen, wobei der redaktionelle Teil und die Werbeanzeigen gestalterisch ineinander übergehen. Diese Kompositonsprinzipien im Magazin sind seit 1969 dieselben geblieben. Das künstlerische Niveau ist herausragend, Genderdebatten, als man hier noch nicht wusste, wie man das überhaupt buchstabiert, wurden bereits in den Siebzigerjahren publiziert. Auch aus dieser Überlegung heraus ist der feministische Monolog im letzten Teil des Stücks so bedeutend. Und: Warhol wollte die Trennlinien zwischen Kunst und Alltag dezidiert auflösen und erhöhte Alltagsgegenstände, wie etwa Verpackungen, zu Kunstwerken. Wer sich ein Bild aktueller Entwicklungsstände der von Andy Warhol inszenierten Popart machen möchte, blättere in die genannte Zeitschrift „Interview“ hinein. Die deutschsprachige Ausgabe von „Interview“, der Monatszeitschrift, wurde 2018 eingestellt. Im Buchhandel kann man/frau sich ein englisches Heft besorgen.

Die Factory und die „Superstars“

Warhol konzentrierte sich auf triviale Alltagsgegenstände und Sujets der Popkultur; was er mit den Hollywoodstars, mit Comic- und Cartoon Motiven, wie etwa Micky Maus oder Superman machte, oder 1962 mit den 32 Campbell’s Soup Cans, seine erste Einzelausstellung als Künstler in Los Angeles, ist über den Status der Ikone hinaus allseits bekannt. Warhol fertigte 32 nahezu identische Bilder, weil es die Campell Suppenkonserven in 32 unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gab. Ebenso stilbildend für die Entwicklung der Pop Art wurden Abbildungen von Kinostandbildern, etwa Marilyn Monroe aus dem Film Niagara, oder unzählige „Elvise“ oder „James Deans“ und „Liz Taylors“. Sie alle sind ausgewählte weiterbearbeitete Ausschnitte von Vorlagen. Warhol war überzeugt, dass er selbst gar nichts mehr male, weil die Vorlagen schon alle da seien und er deshalb gar keine Kunst mehr produziere, sondern diese sich selbst. Mit Andy Warhol löste sich das traditionelle Verständnis von Kunst bis zu einem gewissen Grad auf. Alle diese Kunstwerke produzierte Warhol in seiner Factory, die er 1962 gründete. Das waren Ateliers, die er in New Yorker Fabrikshallen ansiedelte, zumeist in Lower Manhattan, bis herauf zur 23. Straße, unmittelbar beim Chelsea Hotel, das der aus Ungarn stammende Stanley Bard bis Ende der 10er Jahre führte. Das Chelsea war insbesondere in den 60er Jahren durch die New Yorker Underground Kunstszene, vor allem Andy Warhol, bekannt geworden. Das Hotel wurde zum Artistic Playground für alle möglichen Film- und Kunstaktivitäten. 1966 drehten Andy Warhol und Paul Morrissey den erfolgreichen Experimentalfilm „The Chelsea Girls“; in diesem Film wirkten u. a. Nico, Edie Sedgwick, die auch im Theaterstück vorkommen, sowie Gerard Malanga und Marie Menken mit. Die Factory Locations waren Wohnort und Party Pools der kreativen Szene New Yorks. Bob Dylan, Mick Jagger, Jim Morrison von den Doors waren hier ebenso wie Künstlerfreunde, u .a. Salvador Dalí oder Marcel Duchamp. 

Die bitteren Tränen und warum der Mund trocken bleibt

Alle wollten sie Teil der Factory sein, alle wollten Stars werden wie Andy Warhol himself. Er war die absolute Autorität und gebärdete sich oft als machistischer Ausbeuter in einem auf Selbstgefälligkeit und Narzissmus fußenden System. Warhol machte Superstars aus ihnen, wie auch aus Edie Sedgwick. Das ergab dann insgesamt eine ziemlich gefährliche Gemengelage, in der es wiederholt zu Verrücktheiten kam. Valerie Solanas verübte nach ihrem Hinauswurf aus der Factory ein Attentat auf Wandy Warhol, dessen Leben sich dadurch ziemlich verändert haben soll. Die Protagonistin des Theaterstücks im Landestheater, Christa Päffgen, machte Warhol zur blond leading voice seiner Hausband, The Velvet Underground, wie bereits eingangs geschildert. Er schickte sie auf Tour mit der ungestüm-wilden experimentellen Musik und performativen Bühnenshows. Das sorgte in der Band für ordentlich Zündstoff. Denn die oben genannten Musiker waren davon ganz und gar nicht angetan, mit diesem German Model Musik machen zu müssen. Nico begann daraufhin eine Solokarriere als Sängerin, ging einen eigenwilligen Weg und setzte sich mit ihrer Schönheit und ihrem Glamour auseinander. Das Theaterstück verknüpft, begleitet von der fünfköpfigen Band, einige zentrale Ereignisse dieses „schillernden Kunstkaleidoskops“ (Ralph Blase, der Dramaturg, im Programmfolder). Eindringlich wird das aktuelle Motto des Vorarlberger Landestheaters in der Intendanz von Stephanie Gräve deutlich: „Wir reden über Kunst, das sieht man doch.“ Und man/frau hört das auch.

„To all Tomorrow’s Parties“ – is taken from a song by Nico, the sad heroine of the piece …

Weitere Vorstellungen im April: So, 17.4. / Mi, 20.4. / Sa, 23.4. / Di, 26.4. / Fr, 29.4., jeweils um 19.30 Uhr, Großes Haus, Vbg. Landestheater am Kornmarkt, Bregenz