Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Anita Grüneis · 24. Mai 2019 · Theater

Menasses „Hauptstadt“ im TAK: Das Brennverhalten der Unterwäsche

Das Stadttheater Konstanz gastierte mit seiner Version von Robert Menasses großem europäischen Roman „Die Hauptstadt“, der 2017 den Deutschen Buchpreis bekam, im TAK.  Wie lässt sich der Inhalt von 459 Seiten so auf der Bühne darstellen, dass die Geschichte erzählt und das Publikum dabei auch noch gut unterhalten wird? Für Regisseur Mark Zurmühle war das kein Problem. Er zog mit seiner abwechslungsreichen Inszenierung sogar die anwesenden Gymnasiasten in ihren Bann. Einige von ihnen meinten beim Verlassen des Theaters, es sei „gar nicht so lang gewesen wie gedacht“. Das war ein Kompliment, denn die Aufführung dauerte mit Pause 3 Stunden.     

Sechs Personen und viele Figuren

Am Anfang war der Nebel, dann kam Europa resp. jene, die Europa verkörpern – die Beamten. Für die Bühnenfassung hatte Mark Zurmühle die Kernfiguren des Romans übernommen: Den Holocaust-Überlebenden David de Vriend (Peter Cieslinski), die hohe Beamtin Fenia Xenopoulou (Johanna Link), ihren deutschen Kollegen und Liebhaber Kai-Uwe Frigge (Georg Melich), den österreichischen Kulturbeamte Martin Susman (Dan Glazer), den polnischen, vom Vatikan engagierten Auftragskiller Matek Oswiecki (Sebastian Haase) und den Wiener Professor der Volkswirtschaft Alois Erhart (Ingo Biermann). Diese sechs, die im Laufe des Abends auch in andere Rollen schlüpften, standen zu Beginn im Nebel und beobachteten ein Schwein, das frei in Brüssel herumlief. Das Schwein gilt in europäischen Beamten-Kreisen als „Querschnittsmaterie“, das heißt, es gehört je nach Verarbeitungsgrad in verschiedene EU-Ressorts. 

Gründermythos „Nie wieder Auschwitz“

Dann schlägt sich Menasses Buch anhand von Geschichten auf: Die hohe Beamtin Fenia Xenopoulou, eine Griechin aus Zypern, fühlt sich in der Kultur auf dem Abstellgleis und möchte versetzt werden. Zunächst soll sie aber das Image der EU aufpolieren. Ein „Big Jubilee Project“ muss her. Ihr Mitarbeiter Martin Susman kommt auf die Idee, die Parole „Nie wieder Auschwitz“ als Gründungsmythos einer postnationalen europäischen Republik in Szene zu setzen. Dazu müssen Holocaust-Überlebende her. Doch das sind keine Alumni, wie bemerkt wird. Und es wird immer schwieriger, welche zu finden. Könnten nicht auch Schauspieler diese Rollen übernehmen und damit als Beamte der Gründerzeit auftreten? Und dann wird Auschwitz zur neuen Hauptstadt der nach-nationalen Gesellschaft erklärt! So die Idee des depressiven Österreichers Martin Susman. 

Und dann müssen alle sterben

Zum Glück bekommt der Holocaust-Überlebenden David de Vriend das alles nicht mit. Er kämpft in einem Altersheim gegen seine beginnende Demenz und wird regelmäßig von der hektischen Altenpflegerin (hinreißend: Johanna Link) abgestaubt. Nicht nur er, sie alle, die europäischen Beamten aus den unterschiedlichen Ländern, tragen ihre Biografien in sich und erzählen sie ansatzweise an diesem Abend. So wird die „Hauptstadt“ eine Geschichte voller Geschichten oder, mit Menasse gesprochen, ein Ort, an dem Geschichte spürbar und erregbar bleibt. Doch bevor die Ideen der großen Gründerparty weitergesponnen werden können, sterben alle bei einem Bomben-Attentat in der Metrostation Maelbeek. Es war eben doch nur „ein Zwischenspiel von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Aber die Brüsseler Beamten hatten immerhin das Brennverhalten der Unterwäsche europaweit geregelt!  

Der erste Landschreiber Liechtensteins

Das Stadttheater Konstanz hat den umfangreichen Roman unterhaltsam auf die Bühne gewuchtet. Das gelang dank der wunderbaren SchauspielerInnen, die sich in Windeseile umzogen, in völlig konträre Rollen schlüpften und mit ihren Geschichten einen Abend schufen, der zum Weiterdenken anregte: Was ist eine europäische Identität? Gibt es eine europäische Kultur? Sind Wirtschaftsbelange Teile der Kultur? Die Auseinandersetzung mit Europa ist beim aufkeimenden Nationalismus wichtiger denn je. Dabei hat der Euro vorgemacht, wohin Europa steuern könnte: zur grenzenlosen Selbstverständlichkeit. 
Übrigens war Robert Menasse im Jahr 2000 der erste Landesschreiber Liechtensteins. Er wurde damals vom PEN-Club engagiert, hat aber das Land nach wenigen Wochen wieder verlassen – die genauen Gründe sind unbekannt, man munkelte, ihm war das Land zu langweilig.  
 

Weitere Aufführung: Freitag, 24. Mai, 20.09 Uhr, TAK