Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Manuela Cibulka · 07. Nov 2021 · Theater

Ein mitreißender Abend voller Kunst und Künstler:innen: "Wir reden über Polke, das sieht man doch!" als Uraufführung am Vorarlberger Landestheater

Was für ein gelungener Titel für einen viel mehr als gelungenen Abend, an dem Theater wieder einmal beweist, dass mittels Sprache die schönsten Bilder, mittels Fragen die besten Antworten und mittels Kunst – wenn man sie nicht allzu ernst nimmt – unglaublich viel Witz entstehen kann. Und vorweg: Polke nicht zu kennen, ist kein Hindernis, dieses Stück zu besuchen, denn sie werden ihn kennenlernen, und der Versuch des Zürcher Autors Gerhard Meister, dessen Universum anzureißen, ist geglückt.

Die Landung
Gleich zu Beginn wird dem Publikum beim Betreten des Zuschauerraumes klar, dass mit dem „Wir“ auch wirklich alle gemeint sind - kein Vorhang, kein gänzliches Verdunkeln und so werden wir Teil der Landung auf Polkes Planeten. Die Frage, ob in der schlüssigen Inszenierung von Bérénice Hebenstreit und in der wandelbaren Bühne von Miro König der auf Stelzen gestellte Holzkubus samt überdimensionierter Treppe eine Rakete, ein Baumhaus oder was auch immer sein soll, ist hinlänglich, denn mit Rauch und Farbe versetzt, kann er problemlos auch ein Chemielabor werden und im Laufe des Stückes wird das Ansinnen auch der einheitlich gewählten Kostüme klar. Sie können alles sein: Raumanzüge, Arbeitskleidung, Schuluniformen und Laboranzüge. Was am Anfang nicht unbedingt die Sinne des Ästheten anspricht, erleichtert später das Eintauchen in die Bilder der Sprache. Das bereits erprobte und vielgelobte Team Hebenstreit/König hat auch dieses Mal wieder eine wohlüberlegte, sensible Inszenierung auf die Bühne gebracht.

Das Eintauchen
Die sechs Schauspieler:innen - wunderbar ergänzt durch den Musiker Gilbert Handler - sind ein perfektes Team. Klar und voller Lust hanteln und schlängeln sie sich präzise und leicht durch die Themenfelder und agieren als Ganzes. So werden bei der Aufzählung der Bildtitel - die etwas kürzer sein könnten - alle Teammitglieder sowohl zu Musiker:innen, indem sie mit Folien rascheln, mit Wasser plätschern und auf Oberflächen und Ecken kratzen und schrammen, aber auch zu Beleuchtungstechniker:innen, da die auf der Bühne aufgestellten Overheadprojektoren von ihnen bedient mehr als Schattenbilder zulassen. Alles wird belebt und bespielt und das Publikum wird eingeladen sich - wie Gerhard Blase es in der Stückeinführung betont - mit diesem Erfahrungsraum verbinden zu lassen. Es wird viel mehr als nur über Kunst geredet und wir werden Teil des lebenslangen Forschens Sigmar Polkes nach der Bedeutung derselben und dem Verhältnis des Künstlers und seines Schaffens zur Gesellschaft.

Das Erfahren
Sehr gelungen sind die Momente, in denen mit den Projektoren auf der Bühne gespielt und die Akteur:innen Teil der Lichtspiele werden. Vor der Pause unter anderem, als die Schattenperson den auf Folie verschütteten See austrinkt oder auch nach der Pause in der Verdoppelung der Figuren, oder durch die Schriftprojektionen auf einem wallenden Umhang. Die große Stärke des Stückes liegt in dem permanenten Wechsel zwischen diesen eindrückliche Bildmomenten und den ebenso einprägsamen Textbildern, die oft flapsig eingestreut werden, um dann hängen zu bleiben und beim Weitergehen mitgenommen werden zu können. Immer wieder ist ein Augenzwinkern mit dabei und ein Witz, der das Publikum nach dem Rezitieren über den Kunstbetrieb oder auch nach dem Konjugieren des Verbes „polken“ in einer Konjugationstabelle vom Präsens bis zum Futur 2 - nicht fallen lässt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes immer bei Laune hält. Dass Konjugieren mit so viel Leidenschaft betrieben werden kann, ist ein Erlebnis und, unterlegt mit der grandiose Mimik von Vivienne Causemann, in keinster Weise langatmig.

Das Sammeln
Welche Szenen man sich mitnimmt und welche Bilder hängen bleiben, ist jedem/jeder selbst überlassen. Dass aber das Auftauchen der höheren Wesen, denen Polke durch die Eingebung zum Malen eines schwarzen Ecks im rechten oberen Bildrand eines seiner berühmtesten Bilder verdankt, zu einem der Höhepunkte zählt, ist gewiss; nicht nur durch die bezaubernden Kostüme sondern auch durch das bezaubernde Spiel Johanna Kösters und das fulminante Pop-Rock-Punk-Medley – grandios interpretiert von Gilbert Handler.
Mehr als sympathisch und ein gelungener Versuch Gerhard Meisters Verbindung zu schaffen, ist auch der auf der Bühne angestellte Vergleich des bildenden Künstlers mit dem Schauspieler. In Sätzen wie: „Wir sind bescheiden. Alle, die hier sitzen, können sich uns leisten“, fühlt man sich den Sprecher:innen nahe und es bleibt spannend, ob in einer der kommenden Aufführungen das Versteigerungsgebot von 900 € für das Schauspieler:innen-Team angenommen wird.
Auch das Gekitzelt-Werden des Beobachters durch Bilder und Farben oder das Sinnieren über den Wert zweier faulender Kartoffeln ist sehens- und erfahrenswert, und wenn beim Versuch, alles auf einen Punkt zu bringen, die Erkenntnis folgt, dass vielleicht der Punkt der Schlüssel zu allem gewesen wäre, hätte man ihn nur aufgehoben, ist man dankbar, dass dies nicht getan wurde. Nach diesen gut zwei Stunden wünscht man sich keine allumfassende Beschreibung, sondern ist zufrieden über die Suche und erfüllt von Assoziationen zwischen Phantasie und Fakten.

Das Ernten
Wenn am Ende durch die an den Bühnenrand vorgerückte Treppe das Publikum Teil des Ganzen wird, ist man so in dem Stück gefangen, dass man kaum den Schluss begreift. Entspannt  plaudernd verlassen die Akteure die Bühne und erst als das Licht das Zeichen gibt, wird man in seine Rolle zurückgeworfen und belohnt die Schauspieler:innen und alle an der Produktion Beteiligten mit gebührendem Applaus. Diesen mitreißenden Text von Gerhard Meister, der am Ende kein Ergebnis liefert und ein abschließendes Fazit verweigert, als Uraufführung in Bregenz erlebbar gemacht zu haben, ist ein großer Wurf und allen, die Theater auf hohem Niveau schätzen, ist der Besuch dringend angeraten.
Und wer noch mehr von Polke erfahren möchte, hat die Möglichkeit, an den unterschiedlichen, als Begleitprogramm stattfindenden Polke-Gesprächen teilzunehmen. 

Weitere Vorstellungen:
Di, 09.11.2021, 19.30 Uhr
Mi, 10.11.2021, 19.30 Uhr
Fr, 14.01.2022, 19.30 Uhr
Sa, 15.01.2022, 19.30 Uhr
So, 16.01.2022, 16 Uhr

Bregenzer Polke-Gespräche:
07.11.2021, 11 Uhr
02.12.2021, 20 Uhr
11.12.2021, 19.30 Uhr
16.12.2021, 20 Uhr
19.01.2022, 20 Uhr
20.01.2022, 20 Uhr

Vorarlberger Landestheater
Theater am Kornmarkt, Bregenz
www.landestheater.org