Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Niedermair · 28. Mai 2019 · Theater

DER FLÜCHTLING von Fritz Hochwälder am Vorarlberger Landestheater

Fritz Hochwälders „Der Flüchtling“ hatte Ende letzter Woche Premiere am Vorarlberger Landestheater. Der Besuch des Stücks wie der Begleitveranstaltungen ist sehr zu empfehlen, nicht nur als Gegenwelt zur derzeitigen politischen Situation in Österreich, sondern auch als eine Möglichkeit, nachzuschauen, was ein Schauspiel über die historischen und aktuellen politischen und gesellschaftlichen Realitäten hinaus zu zentralen Grundfragen menschlicher Existenz zu sagen hat.

Am 18. August 1938 gelingt Fritz Hochwälder am Alten Rhein bei Hohenems die Flucht in die Schweiz. In Hohenems gab es seit 1617 auf Einladung von Graf Kaspar eine jüdische Gemeinde, von der 1938 nur mehr ein kleiner Rest dort lebte. Topografisch gesehen war nach der Begradigung des Rheins 1923 zwischen Hohenems und Diepoldsau ein großer Bogen geblieben, eine aneinandergereihte Tümpellandschaft von schmalen Rinnsalen verbunden. Wie heute konnte man an manchen Stellen trockenen Fußes auf die andere Seite gelangen. Heute ist das eine einmalige Landschaft, die zu jeder Jahreszeit zum Spazierengehen einlädt, sommers auch zum Baden. Ab März 1938, unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich kamen tausende jüdische Flüchtlinge von Wien quer durch Österreich nach Feldkirch.

Fritz Hochwälder auf der Flucht in die Schweiz

„Sie nahmen die Eisenbahn, fuhren als ‚Touristen‘ los,  und hofften, ungehindert in die Freiheit zu kommen. Am Grenzbahnhof in Feldkirch wurden hunderte von Passagieren durchsucht und mussten ihren Besitz abliefern.“ (Hanno Loewy, „Die Grenze am Alpenrhein. Fritz Hochwälders Flucht im Kontext, Programmheft, Vorarlberger Landestheater, Mai 2019, S. 18-22.) Fritz Hochwälder kam am 18. August 1938 am Hohenemser Bahnhof an, als er aus dem Zug steigt, „weiß er nicht, dass er in letzter Minute gekommen ist. Vermutlich meldet er sich, wie 35 andere Flüchtlinge an diesem Tag auch, beim Gasthof Habsburg, und vermutlich wird er, wie die anderen Flüchtlinge auch, von SS-Männern kontrolliert und auf den Weg geschickt. Es gelingt ihm, am Schweizer Zollposten vorbei, durch das Wasser nach Diepoldsau hinüber zu waten. In Heerbrugg nimmt er den Zug nach Zürich, bezahlen kann er ihn.“ (Hanno Loewy, ebenda, S. 21) Hochwälder bleibt bis zu seinem Tod 1986 in der Schweiz.

Das Schauspiel

Das Schauspiel „Der Flüchtling“ entstand im Frühjahr 1945 auf Wunsch und nach Ideen des Dichters Georg Kaiser, den er 1944 in Zürich kennenlernte. Fritz Hochwälder: „Als ich ihm das fertige Stück Ostern 1945 in Ascona vorlas, sagte Georg Kaiser: ‚Friedrich, Sie haben ganz schön gedichtet – ich hätte es anders gemacht, aber so geht es auch.‘ Nachdenklich fügte er hinzu: ‚Schade – das Stück hätte vor einem halben Jahr gespielt werden müssen, jetzt kommt es fast zu spät.“ (Aus: Vorspruch. Gehalten anlässlich der Fernseh-Sendung des Stückes im Hessischen Rundfunk, am 4. April 1956; in: Programmheft, Vorarlberger Landestheater, Mai 2019, S. 29) „Der Flüchtling“ kommt natürlich nicht zu spät. Es ist vielmehr das richtige Stück zur richtigen Zeit. Es ist das letzte Stück am Ende der ersten Spielsaison von Intendantin Stephanie Gräve, die damit einen neuen Theaterspirit ins Vorarlberger Landestheater in die Seestraße 2 nach Bregenz bringt. Inszenierung: Bérénice Hebenstreit, Bühne und Kostüm: Mira König, Licht: Arndt Rössler, Dramaturgie: Ralph Blase, Videos: Seraphin Simon.

„Ich lebe wie in einer Falle“ – Der Flüchtling

Die drei Figuren im Stück: Der Flüchtling – Tobias Krüger. Die Frau – Johanna Köster. Der Grenzwächter – Nico Raschner. Während wir als Zuschauer im Dunkeln sitzen, stehen sie im Licht auf der Bühne und machen das Theater in diesen Fünfviertelstunden der Aufführung zu einem faszinierenden Ort der Auseinandersetzung mit Themen, die mehr als aktuell sind. Anders als die themenrelevanten Informationen über Medien geht dieser Schauspieltext von Fritz Hochwälder weit über historische oder zeitgeschichtliche Verhältnisse hinaus. Der Text verzichtet auf nähere geographische bzw. historische Zu- und Einordnung, die dramatis personae brauchen keine persönlichen Namen, weil die funktionale Zuschreibung zu den Personen ausreicht. Das Stück ist somit von Anfang an mitten im Thema, der Text entfaltet ein psychologisches Kammerspiel, mit ihren großartigen schauspielerischen Leistungen sind die Charaktere vom ersten Augenblick an präsent. Es braucht keine Distanzierungselemente und -requisiten für die Handlung, wie wir sie aus dem epischen Theater von Bert Brecht kennen. Das Stück mit einem sprachlich an manchen Stellen heute etwas ungewohnten Duktus fällt mit dem ersten Atemzug, wenn das Saallicht ausgeht, wie mit „der Tür ins Haus“. Die Zuschauer – ich habe kein einziges Räuspern oder Hüsteln gehört – folgen der hohen Konzentration des Schauspiels, das reduzierte Bühnenbild, das die extremen Landschaftsorte zumeist sprachlich angibt, der Bergkamm scheint nahezu unüberwindlich, aus dem Tal drängen misstrauische Dorfbewohner herauf ins Gebirge, wo die Handlung platziert ist. Die Schauspielenden trugen mit ihrem begeisternden Spiel ein großartiges Stück bis zum Ende, wo es noch lange weiter sein Echo verbreitet. 

Ein menschliches Drama vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche

Das am 5. September 1945 im Theater Biel Solothurn uraufgeführte Schauspiel in drei Akten, wurde in der aktuellen Inszenierung am Vorarlberger Landestheater durch Videoszenen dramaturgisch sehr eindringlich erweitert, und man versteht, weshalb wahres Theater sich auch hinter dem Vorhang abspielt. Nahe einer schwer passierbaren Landesgrenze – in einem Dreiländereck – im Hochgebirge, treffen drei Personen in der Wohnstube im Haus des Grenzwächters aufeinander. „Man gewinnt den Eindruck, als hätte vor kurzem eine eilige Hausdurchsuchung stattgefunden.“ (Text) Der Flüchtling versucht, sich vor der Verfolgung autoritärer Machthaber in Sicherheit zu bringen und hat sich ins Haus des Grenzwächters gerettet. Seine politische Haltung ist für das Stück im Detail unbedeutend und bleibt während des ganzen Schauspiels unklar. Der Grenzwächter an sich erscheint zunächst obrigkeitstreu, allerdings stellt er sich zunehmend als Opportunist heraus, der ein mehrfaches Spiel spielt. Seine junge Frau gerät in vielerlei Art und Weise zwischen die beiden männlichen Protagonisten. Die sich nur über wenige Stunden hin erstreckende Handlung wird von der zentralen Frage gelenkt, welche der drei Figuren den Schritt über die Grenze wagen wird. Die Antwort kommt überraschend. Auch wenn Hochwälders Biographie eine vorschnelle Zuordnung denkmöglich macht, der Schauplatz seiner Flucht ins Exil wird im Stück vom Alten Rhein ins Hochgebirge verlegt. Der Rest ist ein menschliches Drama und öffnet auf verschiedenen Ebenen Luken und Türen, sich als Zuschauer in dieses Drama auf der Bühne einzulassen. Am Ende geht man weg und kann nicht anders als weiterdenken, nimmt den Text nochmals zur Hand. Die Stimmen der Schauspielenden hallen nach. Bis in die Träume hinein.

Der Traum

Der Topos des Traums taucht an mehreren Stellen im Stück auf. Man fühlt sich allerdings nicht primär an die Surrealisten oder die Psychoanalyse erinnert, sondern an Heiner Müllers „Traumtext“ von 1995, den Klaus Theweleit herausgegegeben hat, der verzweifelte Versuch eines Protagonisten, sich an den Rändern eines Abgrunds hochkletternd zu retten, immer diesen bedrohlichen Absturz und das Aus-dem-Leben-Fallen vor sich.
Im „Flüchtling“ gleich zu Beginn schreibt Hochwälder: „Johanna. Sie fährt mit der rechten Hand übers Gesicht, als wische sie einen Traum weg …“ und später in einer Videosequenz: „Frau.
Es war wie im Traum. Auf einmal steht in der aufgerissenen Tür ein Mann. Da geht unten ein schrecklicher Lärm los, ein Krachen und Poltern, man hätt meinen können, das Haus stürzt ein. Der Mann vor mir wirft die Kleider ab und legt sich neben mich und wie ich die Hand ausstreck, stoss ich auf eine schweissnasse Brust. Ich will schreien, aus vollem Hals um Hilfe rufen – doch wie ich den Mund auftu, hör ich den Mann neben mir keuchen: Hilfe! Hilfe! – Und schon stehn in der offenen Tür zwei oder drei Gestalten, lichtern wie Wölfe!“

„Ein Mensch! Weißt du was das ist, ein Mensch?!“

Gerade wenn man als Theaterbesucher am Ende vielleicht meint, „man weiss nicht mehr, was Mensch und was Vieh ist. Man weiss nicht mehr, Man weiss nichts mehr …“, wie der Flüchtling im Text sagt, dann ist ein Blick ins Begleitprogramm angesagt, hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich mit dem Kontext des Schauspiels intensiver zu befassen.

Z. B. in: Über Grenzen. Grenzsteine erzählen. Hörstationen mit Berichten von Zeitzeugen, deren Flucht während des Nationalsozialismus über die Grenze Vorarlbergs in die Schweiz führte. Im T-Café und Parkettfoyer des Vorarlberger Landestheaters. In Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Hohenems.” Oder beim

Publikumsgespräch am Dienstag, 28. Mai, im Anschluss an die Vorstellung, ca ab 21 Uhr, oder

Diesseits der Grenze” Lesung und Gespräch mit Gabriel Heim, am Di, 4. Juni, 19.30 Uhr im T-Café. Lebensgeschichten aus den Akten der Fremdenpolizei.

Weitere Vorstellungen von "Der Flüchtling": 28.5. / 6.6. / 8.6. / 12.6. / 16.6. / 21.6., jeweils 19.30 Uhr, Vbg. Landestheater am Kornmarkt