Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Peter Füssl · 10. Mär 2019 · Tanz

Schöne Apokalypse mit finalem Hoffnungsschimmer – Zero Visibility Corp. liefert mit „Frozen Songs“ einen nachdenklich stimmenden Auftakt zum „Bregenzer Frühling“

Eine Million Samenproben von mehr als 5.200 verschiedenen Nutzpflanzen sollten im Global Seed Vault, einem im Permafrost auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen katastrophensicher angelegten, weltweiten Saatgut-Tresor, sogar den Untergang unserer heutigen Zivilisation überdauern und künftiges Leben ermöglichen. Die Choregrafin und Gründerin der Zero Visibility Corp. Ina Christel Johannessen hat diese bemerkenswerte Institution mit ihrer seit 1996 bestehenden Compagnie besucht, was schließlich zum Ausgangspunkt für ihre 2017 in Tromsø uraufgeführte, multimediale Produktion „Frozen Songs“ wurde. Das aus dem gesamten Bodenseeraum zum Auftakt des diesjährigen „Bregenzer Frühlings“ ins Festspielhaus geströmte Publikum zeigte sich begeistert, wobei die spannenden 90 Minuten durchaus auch zum Nachdenken anregten.

Multimediales Gesamtkunstwerk ...

Am Anfang steht ein Bühnenvorhang aus sanft wogenden, schön beleuchteten Eiskristallen, die sich freilich bei näherem Hinsehen als unzählige, an einem unsichtbaren Netz drapierte weiße Plastiksäcke entpuppen – hier erweist sich zum ersten Mal vermeintlich Ästhetisches als drastischer Hinweise auf die Gefährdung von Natur und Umwelt. Diese Diskrepanz sorgt den ganzen Abend für Spannung, denn die chinesischen Multimediakünstler Feng Jiangzhou und Zhan Lin füllen die bühnenraumgroße Leinwand mit eindrucksvollen Einspielungen von Schneestürmen und Unwettern, malträtierten Landschaften, rauchenden Schornsteinen, urbanen Betonwüsten und nicht immer zu entschlüsselnden Bedrohungsszenarien, in die sie immer wieder auch Livebilder von der Aufführung integrieren. Nico Benz sorgt für stimmungsvolle, ausgeklügelte Licht- und Schattenspiele, und das aus Frederik Meulyzer und Koenraad Ecker bestehende belgische Electronic-Duo Stray Dogs schafft Atmosphäre mit knallharten, manchmal auch rituell wirkender Perkussion, Synthesizern, verfremdeten Gitarren und düsteren Cello-Klängen, in die auch bedrohliche Umweltklänge, etwa von berstendem Eis, integriert werden. Für Überraschungen ist immer Platz, etwa wenn eine Filmsequenz eingespielt wird, in der der 14-jährige Knabensopran Aksel Rykkvin Henry Purcells „Cold Song“ („What Power Art Thou‘“) interpretiert.

... und engagiertes Tanzprojekt

In diesem apokalyptisch wirkenden Umfeld entwickeln zwei Tänzerinnen (Line Tørmoen, Pia Elton Hammer) und fünf Tänzer (Ole Kristian Tangen, Valtteri Raekallio, Daniel Whiley, Fan Luo, Anton Borgström) oftmals solo oder im Duo expressive Bilder von Erschöpfung und Verzweiflung, Suche und Aufbegehren. Dabei scheint aber nicht alles bis ins kleinste Detail vorgegeben, vielmehr lässt Ina Christel Johannessen ihrer Compagnie durchaus auch Raum für kreative Ideen und spontane Improvisationen. Manches wirkt allerdings vielleicht auch spontaner als es tatsächlich ist, etwa wenn die Akteure plötzlich aus ihrer Rolle treten und dem Publikum mittels hin- und hergereichten Mikrofons über die Global Seed Vault berichten und zum behutsamen Umgang mit der Natur und den Ressourcen aufrufen. In diesen Belangen sei ein Umdenken angesagt, denn ohne positive Veränderungen drohe das große Sterben. Auf diese legere Art übermittelt wirkt dies bedeutend sympathischer und weniger schulmeisterlich, als es etwa professionelle Stimmen vom Band mit denselben Botschaften täten.

Finaler Hoffnungsschimmer

So entwickelt sich das Geschehen immer mehr zum Todestanz, ehe sich doch noch ein finaler Hoffnungsschimmer Raum schafft. An der Bühnendecke öffnen sich Schleusen und Unmengen von Samen strömen in drei Katarakten auf die Bühne herunter und animieren die sieben Tänzerinnen und Tänzer zu geschäftigem Treiben, schwer zu enträtselnden Ritualen und hektischen Tanzszenen, die sich ganz zum Schluss doch noch in einem Hoffnungsschimmer auflösen: Auf der riesigen Leinwand sprießen im Zeitraffer üppige Pflanzen und bedecken schließlich den gesamten Bühnenhintergrund. Ein versöhnliches Schlussbild, wenngleich die Wirklichkeit vielleicht doch weniger rosig – eigentlich ja grün – ausschauen könnte: Zuletzt geriet der Global Seed Vault im hohen Norden in Gefahr, weil die bunkerartig 120 Meter in den Berg hineingebaute Anlage aufgrund der Klimaerwärmung unerwartet von Schmelzwasser infiltriert wurde. Dieses Problem wurde durch kostspielige Umbauten mittlerweile gelöst, aber wer weiß schon, welche Überraschungen angesichts einer drohenden Umweltapokalypse noch auftauchen könnten ... Dennoch: ein gutes und wichtiges Stück!   

Nächster Termin:
Compagnie DCA/Philippe Decouflé
„Nouvelles Pièces Courtes“ (ÖEA)
Sa, 23.3.2019, 20 Uhr
Festspielhaus Bregenz
www.bregenzerfruehling.com