Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Peter Füssl · 24. Mär 2019 · Tanz

Philippe Decouflés wahnwitzige Zauberwelten – die Compagnie DCA erntete beim „Bregenzer Frühling“ für die Österreichpremiere der „Nouvelles Pièces Courtes“ Standing Ovations

Er absolvierte Annie Fratellinis Zirkusschule und lernte Pantomime bei Marcel Marceau, studierte bei den unkonventionellen Großmeistern multimedialer Tanzkunst Alwin Nikolais in Angers und Merce Cunningham in New York, wollte eigentlich Comic-Zeichner werden und schwärmt für Oskar Schlemmers Triadisches Ballett, für den Cirque du Soleil und für die gebündelte Energie und Emotionalität eines guten Rock’n’Roll-Songs – die Rede ist von Philippe Decouflé. Der vielleicht populärste, ganz sicher aber witzigste Choreograf Frankreichs konzipiert mit den Multitalenten seiner vor 35 Jahren gegründeten Compagnie DCA (Compagnie pour Diversité, Camaraderie, Agilité) in einem ehemaligen Elektrizitätswerk in Paris seine multimedialen Produktionen, in denen sich seine vielseitige Ausbildung und seine breit angelegten Interessen widerspiegeln. So auch in den „Nouvelles Pièces Courtes“, die das Publikum beim „Bregenzer Festspielhaus“ gleichermaßen verblüfften wie begeisterten.

Warum „nur“ tanzen ...

... wenn man über viele Talente verfügt. Die sieben Tänzerinnen und Tänzer sind zwar alle hochbegabt in diesem Metier und beherrschen unterschiedlichste Tanzvokabulare, sie singen aber auch, spielen Instrumente, verfassen Texte, schlüpfen in Rollen, betätigen sich als Pantomimen und verblüffen als Akrobaten. Die sehr unterschiedlichen Kurzstücke bieten allen Beteiligten Gelegenheiten im Übermaß, die jeweiligen besonderen Fähigkeiten ins Rampenlicht zu rücken.

Warum „nur“ auf dem Boden agieren ...

... wenn man auch durch kreisrunde Löcher im Bühnenboden wie aus dem Nichts aus der Versenkung auftauchen und sich mühsam in schraubenden Bewegungen nach oben arbeiten kann, um dann schließlich doch wieder in der Versenkung unterzutauchen. Oder an einer trapezartigen Vorrichtung hängend den ganzen Bühnenraum schwungvoll durchmessen, in durch ausgeklügelte Beleuchtungseffekte und Bildprojektionen erschaffenen Phantasielandschaften schweben und dadurch wunderschöne poetische Traumbilder evozieren kann. Decouflés Fantasie lässt sich nicht auf die Bretter, die die Welt bedeuten, eingrenzen.

Ein Körper ist mehr als ein Körper ...

... wenn man ihn nicht nur in vielfältigster Weise auf der Bühne präsentiert, sondern gleich auch noch in einer für das Publikum oftmals unentwirrbaren Mischung aus Live-Verfilmung und vorgefertigten Filmsequenzen simultan oder zeitlich verschoben, manchmal auch zu filmischen Loops aufbereitet, auf die bühnenraumgroße Projektionsfläche wirft. Die Video-Künstler Olivier Simola und Laurent Radanovic leisten Verblüffendes, wenn es um solche Verfremdungseffekte, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion völlig verschwimmen lassen, geht – besonders imposant im Stück „Evolution“. Auch die Lichtdesignerin Begoña Garcia Navas greift tief in ihre Trickkiste, bezaubernd erscheinen etwa diverse scherenschnittartige Schattenspiele oder eine Szene, in der zwei Tänzerinnen so dicht hintereinander agieren, dass sie wie ein Fabelwesen mit vier Händen, vier Füßen und zwei Köpfen wirken. Die erwähnte Projektionsfläche ist übrigens ein von Alban Ho Van entworfenes Bühnenelement, ein aus streng geometrisch aneinandergereihten Lamellen bestehender multifunktionaler Geniestreich, der auch türen- und fensterartige Öffnungen zulässt und in Kombination mit den Lichteffekten quasi Einblicke und Zugänge in andere Welten ermöglicht.

Vivaldi als Ausgangspunkt ...

Auszüge aus Vivaldis „Stabat Mater“ und aus seinem Concerto für zwei Mandolinen in G-Dur bilden zwar den klassischen Ausgangspunkt und Antonio Carlos Jobims „One Note Samba“ den lässig swingenden Counterpart dazu, Pierre Le Bourgeois und Peter Corser, Cengiz Djengo Hartlap und einige der beteiligten Performer (live als Human Beatbox!) schaffen aber einen vielgestaltigen Soundteppich quer durch alle Genres und Stile, also die perfekte akustische Entsprechung für die enorme Vielfalt an visuellen Eindrücken. Letztere werden ganz maßgeblich auch durch die fantasievollen, von Laurence Chalou und Jean Malo entworfenen Kostüme geprägt, die am aufsehenerregendsten in ihrem dem Bauhaus-Stil nachempfundenen Ausformungen sind.

Gesamtkunstwerk mit (Wahn-)Witz à la Philippe Decouflé ...

... ist weit mehr als die Summe aller dieser höchst bemerkenswerten Einzelbestandteile, denn der exzellente Choreograf erschafft aus den unterschiedlichen Kurzstücken eine ohne jeglichen roten Faden auskommende und dennoch irgendwie ineinandergreifende und in sich stimmige zauberhafte Traumwelt. Er schöpft immer gerne aus dem Vollen, integriert Extremes und Verrücktes und verfügt – im Gegensatz zu vielen anderen Größen dieses Metiers – vor allem auch über ein überbordendes Maß an Witz und Humor, was einen beachtlichen Teil des Reizes seiner Produktionen ausmacht. Decouflé nennt unter anderem Groucho Marx und den Zeichentrickfilmer Tex Avery als Einflüsse. Selten konnte man sich beim „Bregenzer Frühling“ dermaßen – auf hohem Niveau – amüsieren, wie an diesem Abend mit den „Nouvelles Pièces Courtes“.

Ein absoluter Höhepunkt und irgendwie ein Stück im Stück sind in dieser Hinsicht die Szenen mit Eindrücken von einer Japan-Reise der Compagnie. Das startet mit einer quirligen Flughafenszenerie, setzt sich in furchtbaren Turbulenzen während des Fluges fort und gipfelt in ironischen Gegenüberstellungen der strengen Riten und Traditionen Japans, die mit den dort herrschenden Exzessen in der modernen Businesswelt kollidieren. Besonders gut kamen ein auf Deutsch vorgetragener ironischer Text von Alice Roland zum fehlgeleiteten Kaufverhalten in den Konsumtempeln oder ein imaginäres Switchen durch die Unmengen an japanischen Fernsehsendern an – in dieser Welt knallbunter Kimonos, kombiniert mit witzigen Videoeinspielungen findet selbst Slapstick-artige Komik ihren idealen Platz. Ob Poetisches oder überschäumend Turbulentes, Melancholisches oder Verspieltes, Überraschungsmomente sind immer inkludiert – bis hin zum hoppelnden Hasen im rosa Kostüm: es ist alles Decouflé!

Demnächst beim "Bregenzer Frühling":
Compagnie Wang Ramirez: "Everyness"
Fr, 5.4.2019, 20 Uhr
Festspielhaus Bregenz
www.bregenzerfruehling.com