„Kaffee und Zucker?“ Dokumentartheater im TAK in Liechtenstein © Pablo Hassmann
Mirjam Steinbock · 18. Apr 2019 · Tanz

Vernetzung vollendet bei „Tanz vor Ort“- Künstler*innen zeigen beim Stückeabend „onStage“ die Qualität und Seele des Vorarlberger Tanzschaffens

Das erste April-Wochenende stand im Zeichen des Zeitgenössischen Tanzes. Im Theater Kosmos in Bregenz präsentierte sich an drei Tagen die große und ständig ausbauende Gemeinschaft von netzwerkTanz und ließ ein großes Publikum den Status Quo regionalen Tanzschaffens entdecken. Strahlende Gesichter, angeregte Gespräche und voller Einsatz auf, vor und hinter der Bühne prägten das Bild - ein schillerndes, gefärbt durch vielfältige Stile und sämtliche Altersgruppen. Vernetzung war das Motto, dem der Verein mehr als gerecht wurde und als Draufgabe noch den Herzschlag einer immer stärker werdenden Tanzregion hinzufügte.

Zwischen „Mit-Tanzen“, dem seit einigen Jahren bestens laufenden Kooperationskonzept mit Volkstanz und Volksmusik am Freitag und „Alles tanzt“ am Sonntagnachmittag, bei dem sich vor allem Tanzschüler*innen des Landes und etablierte Vorarlberger Tanzschaffende in einer Wiederaufnahme und Neuproduktion zeigten, war am Samstag ein Stückeabend eingebettet. „onStage“ zeigte aktuelle Arbeiten und neue Konzepte Vorarlberger Künstler*innen, die sich letztes Jahr auf Einladung von netzwerkTanz zum Thema „Vernetzung“ bewerben konnten. Die Entscheidung überließ der engagierte Verein international tätigen Tanzexpertinnen. Die deutsche Tanzwissenschaftlerin Jutta Krauß und die in der Schweiz tätige englische Choreografin Vanessa Cook bildeten die Jury, die sich in einem umfassenden Bewerbungsprozess für fünf Stücke entschied.

Sinnsuche im Gegenüber
Dazu gehörte „weam g´höršt du“ von „mandelbox“, einem Ensemble für Musik und Tanz mit der Tänzerin Carmen Pratzner und den Musikern Laura Strobl, Thomas Liesinger und Marko Arich. Ihr rund 40-minütiges Stück befasst sich mit der Verbindung von Geräuschen, Klängen, Bewegungen und Tanz. Das zu Beginn hinter einer Stellwand verborgene und nur über seine Schatten sichtbare Musik-Ensemble spielt mit der Wahrnehmung von akustischen Reizen, die von der Tänzerin ausgelöst werden. Wer bin ich, wer sind die Anderen und wo gehöre ich hin sind die Fragen, die das Ensemble in der Stückbeschreibung thematisiert. Die direkte Verbindung von Tänzerin und Musik-Trio ist zu Beginn gestört, das Berühren der transparenten Stellwand löst Lichtblitze und irritierende Electronic-Sounds aus und katapultiert die Tänzerin zurück in den Raum. Bis Trennendes durch Neugier, Forschen und Einlassen in das Einende kommen kann, füllen die klassischen und zeitgenössischen Bewegungen der Tänzerin den Raum vor der Wand. In langsamen Sequenzen stellt Carmen Pratzner ein Ringen in den Mittelpunkt und verweist so auf das vom Ensemble beschriebene Thema der Sinnsuche im Gegenüber. Dass dies vom Publikum einige Geduld erfordert scheint gewollt. Einen geradezu erlösenden Moment bringt Marko Arich mit seinem melodischen Gitarrenspiel, das die erste nährend wirkende Begegnung zwischen Musik und Tanz krönt. Unterstützt wird das durch die Öffnung der Stellwand, was die Sicht auf alle Musiker*innen freigibt. Diese verstehen es gekonnt, Elektronik und Akustik zu einem selbstverständlichen Ganzen zu verschmelzen. Dem Tanz könnte hier die Rolle der Botschafterin zugesprochen werden. An Carmen Pratzner wird sichtbar, wie sich Reize körperlich und folglich in der Umwelt niederschlagen können. Ein Stück, das durch seine Intensität nachwirkt. Es war nicht zum ersten Mal in Vorarlberg zu sehen: Anfang 2018 stand „mandelbox“ mit dem Werk auf Einladung des Kulturkreis Wolfurt im Foyer des Seilbahnbauers Doppelmayr, was dem künstlerischen Zusammenspiel von Raum, Licht, Musik und Tanz an einem ungewöhnlichen Performance-Ort einen besonders intensiven Fokus schenkte.

Sehgewohnheiten auf den Kopf gestellt
Das zweite Stück des Abends, „Liquidate“, ist eine aktuelle Produktion der Tänzerin Silvia Salzmann und der Videografin Sarah Mistura. Die Künstlerinnen, die regelmäßig miteinander arbeiten, setzen sich in diesem Kurzstück mit Transformieren und Auflösen auseinander. Die Bühne wird zur Produktionsstätte wenn Mistura das opulente Kleid von Salzmann, die neben der Projektionsfläche auf einem Sockel steht, über den Boden drapiert. Der Kleiderstoff, eine leichte Plastikfolie, knistert geradezu poetisch, während ein Lichtbalken wie ein Scanner über die Leinwand läuft und Salzmann in ein mystisches Licht taucht. Das Element Wasser binden die beiden Performerinnen sowohl auf den Projektionen als auch analog auf der Bühne ein. Ein von der Decke hängendes nasses Hemd tropft unaufhörlich auf den Boden und wirkt wie ein Anker zwischen den kontrastreichen Farben auf der Leinwand und der im Vordergrund tanzenden Silvia Salzmann, die schließlich kopfüber in eine Metallwanne eintaucht. Das Stück gewinnt an Humor bei der Betrachtung einer sprichwörtlich auf den Kopf gestellten Bein-Choreografie; Sehgewohnheiten werden um 180 Grad gedreht. Schließlich taucht Salzmann mit einem roten Kleid aus ihrem Waschgang auf, langsame, fließende Bewegungen stehen im Kontrast zu ihrem vorher kraftvollen, energischen Auftreten. Das erinnert an Rituale und die reinigenden Kräfte von Gewittern, man riecht förmlich die Frische eines warmen Sommerregens und das Vibrieren seines Sounds - hier in der Stimmfarbe von Florian Koller. In beeindruckender Weise zeigen Salzmann und Mistura, welch anmutige Symbiosen aus Tanz- und Bewegtbild entstehen und wohin langjährige Zusammenarbeiten führen können.

Eine geeinte Gesellschaft im Blick
Dass auch junge Kooperationen bei einer guten Idee und zu gesellschaftspolitisch perfekt passendem Zeitpunkt auf fruchtbaren Boden fallen, beweist Claudia Gravas „CreaRedes“. Die Tänzerin mit argentinischen Wurzeln bringt in ihrem neuen Werk sechs Künstler*innen verschiedener Kulturen und Sprachen auf die Bühne. Claudia Grava lässt mit scheinbarer Leichtigkeit und offensichtlicher Profession ihr Ensemble in synchron choreografierten Szenen auf der Bühne agieren. Sie gibt ihnen auch die große Freiheit, in persönlicher Bewegungs- und der jeweiligen Kunstsprache den eigenen Ausdruck zu vermitteln. So wird der Breakdancer Willi Brozman zu ihrem klassischen und gleichzeitig rebellierenden Duettpartner, die Akkordeonistin Margarete Müller mit herzhaften Jodlern zum berührenden Klangboden, der in Liverpool studierende Musiker Toni Micail zum akustisch sehr erfrischenden Vermittler, die Poetry-Slammerin Deborah Macauley mit durchdringender Stimme zur textlich Haltgebenden und der Oud-Spieler Moaz al Shamma zum klangvollen Visionär einer einenden Gesellschaft. Satt wirkt diese erste Präsentation einer Stück-Idee, die hoffentlich weiter ausgebaut wird. Das Ensemble ist fein aufeinander abgestimmt und so klar wie sensibel geführt durch ihre Choreografin Claudia Grava und die Dramaturgin Barbara Herold. Das Ganze wirkt nie aufgesetzt oder gar pathetisch, witzige Details machen es leicht, wie der Tanz Brozmans, den er im Handstand in anderen Schuhen macht, was an das berühmte „Table Ballet“ von Charlie Chaplin erinnert. Die Botschaft dieses Stücks ist eindeutig, hier wird ausschließlich im „UND“ gedacht und das fährt im wahrsten Sinne ein. 

Stimmige Weiterentwicklung
Carmen Pratzner ist in „Solo II“ nochmals auf der Bühne zu sehen. Begleitet von Thomas Liesinger, der auch Teil des zu Beginn auftretenden „mandelbox“-Ensembles war, zeigt Pratzner hier eine Weiterentwicklung ihres Stücks „Solo“. Dies präsentierte sie erstmals 2016 anlässlich des Vorarlberger Kulturpreises in der Sparte Tanz, für das sie den Anerkennungspreis erhielt. Die Tänzerin trägt ein schwarzes Kostüm, das lediglich Arme und Beine frei lässt und die Bühne ist so ausgeleuchtet, dass die Gliedmaßen sich unabhängig voneinander zu bewegen scheinen. Pointiert unterstützt von der Trompete präsentiert die Tänzerin in geschmeidigen und flinken Bewegungssequenzen, auf welche Weise die bloße Erzählung durch Füße und Hände komplett wie ein Wegenetz wirken kann.

Aus dem Inneren gewachsen
Im finalen Stück des Abends präsentieren die Luftakrobatin Christine Gruber und die Tänzerin Carolina Fink inwiefern „Seilschaften“ zu großer Freiheit führen können. Vier von der Decke hängende rote Seile bilden den Mittelpunkt einer spielerischen Artistik auf allen Ebenen der zwei Künstlerinnen, die von den DJs Patrick Bo und Adnan Celebic mit House musikalisch begleitet werden. Teil des Bühnenbildes sind auch sechs weitere Tänzerinnen und Tänzer im Hintergrund. Räumlich klar abgegrenzt sind die Bereiche Artistik, Musik und Background-Dance. Eine Zusammenführung verschiedener Blickwinkel und Sichtweisen findet statt, wenn die Club-Tänzer*innen plötzlich in einem langen Freeze verharren oder Adnan Celebic sich vom DJ-Pult weg zu den Tänzerinnen begibt und ein Trio beginnt. Das Stück lebt vom Improvisatorischen, das macht seinen Charme aus. Sich im künstlerischen Schaffen nicht ganz so ernst zu nehmen, dringt wie ein Untertitel durch. Experiment und Forschung werden hier lustvoll und äußerst animierend ins Blickfeld gerückt und so verwundert es nicht, dass das Ensemble auf den Applaus verzichtet und das Publikum stattdessen auf die Bühne bittet, um den Abend selbst tanzend und in freier Gestaltung fortzuführen. Dieser Übergang ist sicher der perfekteste des gesamten Festivals, zeigt er doch punktgenau, was die aus dem Inneren heraus gewachsene und in aller Offenheit ins Außen sich flechtende Vorarlberger Tanzszene ausmacht.

Applaus gab es an diesem Wochenende zuhauf und die Hoffnung der beiden Jurorinnen, dass die „vielfältigen choreografischen Reaktionen auf das Thema zusätzliche Perspektiven provozieren und Diskussionen anregen“, sollte sich bei „onStage“ vollends erfüllen. Im Foyer des Theater Kosmos waren tanzaktive und -interessierte Menschen sowie Kolleg*innen aus der Schweiz, aus Deutschland und ganz Österreich zwischen den eindrücklichen Tänzerinnenporträts der Fotografin Sarah Mistura noch lange in Gesprächen vertieft.