Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Füssl · 05. Nov 2015 · Tanz

Junge Flüchtlinge tanzen ihr Schicksal – Darrel Toulon eröffnet mit seinem Aufsehen erregenden Dance Community-Projekt das tanz ist Festival

Darrel Toulon, damals noch künstlerischer Leiter und Chefchoreograf der Tanzkompanie der Grazer Oper, erarbeitete Anfang dieses Jahres in einer Koproduktion mit der Pfarrgemeinde St. Andrä („ohne jeden Zweifel die bunteste Kirchengemeinde in Graz“) das Dance-Community-Projekt „Through the open door“. Er lässt jugendliche Flüchtlinge das tanzen, was sie sonst vielleicht gar nicht artikulieren könnten – ein wunderbar stimmiges Projekt, das angesichts der Flüchtlingsströme und der damit verbundenen Diskussionen natürlich absolut am Puls der Zeit ist. Nachdem die Schüleraufführung am Vormittag schon ein voller Erfolg war, zeigte sich am Abend auch ein alle Generationen überspannendes Publikum total begeistert.

Mehr als Einzelschicksale

 

Die jungen Menschen sind zwischen 15 und 29 Jahren alt, stammen aus Bhutan, Gambia, Afghanistan, Somalia oder Österreich und leben nun alle in Graz. Sie haben vor und während ihrer Flucht hierher zumeist Furchtbares erlebt, weshalb Darrel Toulon zuerst einmal auf behutsame Weise das Vertrauen der Akteure gewinnen musste, ehe sie ihm ihre Geschichten anvertrauten. Etwa Celestina, die drei Jahre alt war, als ihr Vater verstarb und fünfzehn als ihre Mutter plötzlich verschwand. Auf der Suche nach der Mutter geriet sie versehentlich von Bhutan nach Indien, wo sie als Hausmädchen wie eine Gefangene gehalten wurde, ehe man sie mit einem gefälschten Pass nach Europa abschob. Oder Faiz, der junge Afghane, der aus dem Iran flüchtete, wo sein Volk völlig rechtlos ist und unterdrückt wird. Oder Salman aus Somalia, der mit seinem Bruder auf dem Weg vom Sportplatz nach Hause von einer paramilitärischen Einheit verschleppt und zwangsverpflichtet wurde. Er überlebte die Flucht, sein Bruder wurde erschossen. Drei Einzelschicksale, die dennoch symptomatisch für die unterschiedlichsten Gründe sind, weshalb mittlerweile Millionen Menschen auf der Flucht sind.

Höchst eindrucksvoll, aber niemals plakativ oder rührselig

 

Auf der Bühne steht nichts außer 15 identischen Stühlen, die sich aber als unglaublich variantenreiche Requisiten erweisen – sie dienen als Podeste, Mauern, Wachtürme, Zellen oder Schlupflöcher. Den durch markante Beats und Ethno-Einsprengsel geprägten Soundtrack bastelte Toulon aus den Lieblingsstücken der Akteure, die er mit Interview-Ausschnitten zu einer wirkungsvollen Collage verdichtete. In diesem Setting setzen die jungen Flüchtlinge auf höchst eindrucksvolle Weise, aber niemals plakativ oder rührselig ihre Schicksale tänzerisch um – Ängste, Verwirrung, Unsicherheit, aber auch Hoffnungen und Sehnsüchte werden solistisch und in kleineren und größeren Gruppen thematisiert. Hierbei spielen auch die einheimischen Tänzerinnen wesentliche Rollen. Es ist faszinierend, was Darrel Toulon in diesen zehn Monaten aus den zum Teil höchst begabten Amateuren herauszuholen verstand. Mit einfachsten Mitteln wird die größtmögliche Wirkung erzielt. Das begeistert und geht unter die Haut. Kein Wunder, dass sich zum Schluss auch das Publikum von den jungen Tänzerinnen und Tänzern zum Mittanzen auf die Bühne holen ließ und damit seine Solidarität und die Begeisterung für das Gebotene gleichermaßen ausdrücken konnte.

Ansteckender Enthusiasmus

 

Darrel Toulon zeigt mit dieser Produktion auf, wie angesichts der Flüchtlingsströme auch Kunst und Kultur mit relativ beschränkten Mitteln einen wichtigen Beitrag zu leisten imstande sind. Das kann auch direkte Auswirkungen haben – zwei der Akteure erhielten mittlerweile Tanzstipendien, einer wurde von einer Familie adoptiert und die junge Frau aus Buthan wird eine Ausbildung als Arzthelferin absolvieren können. Aber die Wirkung geht auch weit darüber hinaus. „Through the open door“ hat es von den ursprünglichen drei in Graz geplanten Abenden nicht zufällig auf mittlerweile 15 Aufführungen gebracht. Der Enthusiasmus, mit dem alle Beteiligten bei der Sache sind, wirkt ansteckend. Hoffentlich auch hier in Vorarlberg!