Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Füssl · 04. Nov 2015 · Tanz

Neue Perspektiven einbringen, wie man Traditionen auch sehen kann – Interview mit Simon Mayer zu "Sons of Sissy"

Der österreichische Tänzer und Choreograph Simon Mayer hat sich schon mit seiner letzten Produktion „SungBengSitting“ im Spannungsfeld zwischen alpenländischer Tradition und zeitgenössischem Tanz auf die Identitätssuche begeben. Sehr erfolgreich auch im Rahmen des letztjährigen tanz ist Festivals am Spielboden. Heuer präsentiert er sein neuestes Stück „Sons of Sissy“.

Grenzen eliminieren statt aufbauen

 

Peter Füßl: Siehst Du „Sons of Sissy“ als Fortsetzung dieser Identitässuche?

Simon Mayer: Vor allem auch der Suche danach, wo denn die Grenzen wirklich sind, mit denen wir uns als Menschen im Alltag von anderen Menschen abschotten, die uns für andere zu Fremden machen und uns beschützen sollen, die für Flüchtlinge im Moment teils unüberwindbar sind. Und was das Stück betrifft natürlich auch die Grenzen der Tradition und des Brauchtums. Was bedeutet der ‚Mia san mia’-Gedanke, oder ‚Das ist unser Schuhplattler, unser Jodler’? Gejodelt wird in irgendeiner Form überall auf der Welt, und der Schuhplattler ist in seinen Bewegungselementen ebenfalls von Südafrika bis nach Norwegen und Australien vorhanden. Es muss heutzutage mehr ums Grenzen Eliminieren als ums Grenzen Bauen gehen, sonst sind wir irgendwann mal alle alleine auf unseren kleinen Ego-Inseln und ersticken in der Angst vor dem scheinbar "Fremden". Identität ist für uns sicher notwendig, weil wir in einer materiellen Welt leben und diese Identität in gewissen Stufen des Erwachsenwerdens auch brauchen. Aber irgendwann ist es Zeit, einen Großteil dieser Identität loszulassen, sonst entwickelt sich nur die materielle Seite weiter – die Gier, die Angst, das, was man hat oder glaubt zu besitzen, zu verlieren, anstatt dass sich auch geistige und vor allem Herzensqualitäten entwickeln.

Männliche und weibliche Energien in sich akzeptieren


Du befasst Dich mit den traditionellen männlichen Rollenbildern. Ich könnte mir vorstellen, dass Du diese allein schon durch Deinen Entschluss, Tänzer zu werden, bereits aufgebrochen hast. War das ein schwieriger Weg?

Mayer: Ja, das war kein leichter Weg, aber er war es wert. Es befreit total, sowohl die männlichen als auch die weiblichen Energien in sich immer mehr zu akzeptieren und teilweise eben gar nicht mehr zu unterscheiden. Das wär dann das Ziel. „Sons of Sissy“ ist ein Stück mit vier Männern. Was im Moment in der Welt falsch läuft, das ist meiner Ansicht nach großteils auf dem Mist der Männer bzw. des Egos gewachsen, das sich an Männer leichter anhaftet und entwickelt als bei Frauen. Daher versucht „Sons of Sissy“ auch ein alternatives Männerbild zu zeigen: Schluss mit dem Macho, der ständig seine Stärke beweisen muss – ob physisch oder intellektuell – und seine weiblichen Seiten nicht akzeptieren kann. Die „Sons of Sissy“ trauen sich, auch mal Hand in Hand zu gehen und zu tanzen, nackt, wollen die Grenzen zwischen Mann und Frau aufbrechen, weil ohnehin alles eins ist und ein ständiger Wechsel von Energien, und weil jeder beide Teile in sich trägt.

Humor hilft dabei, neue Perspektiven einzubringen

 

Dirndl, Aperpeitschn, Juchatza, Schuhplattln – das klingt sehr nach Brauchtum aus Deiner ländlichen Heimat in Oberösterreich. Der Titel „Sons of Sissy“ lässt aber vermuten, dass diese Tradition nicht ganz humorfrei aufgearbeitet wird.

Mayer: Die konservativen und starren Strukturen aufzubrechen funktioniert meist nicht, weil man mit Gewalt gegen Gewalt arbeitet. Es geht eher darum, ein Loslassen zu initiieren. Das Publikum soll von Gewohnheiten oder von gewissen Bildern und Klischees loslassen können. Humor ist hierbei ein wichtiger Faktor, weil er meistens verbindet. Menschen öffnen sich, wenn Humor ins Spiel kommt oft sehr schnell und somit ist es auch leichter, neue Perspektiven einzubringen, wie man Traditionen sehen, wie man volkstanzen, wie man Volksmusik spielen, hören und erleben kann. Ich bin sehr an den rituellen Aspekten der Volksmusik und des Tanzes interessiert, weil sie heilsame Qualitäten mit sich bringen. Menschen suchen nach einem Ersatz für die Spiritualität, die sie in der Kirche oft nicht mehr finden. Ich glaube, Volkstanz und Musik haben ein tolles Potential, diese Spiritualität wiederzufinden. Eine freie Spiritualität, ohne Dogmen. Tanz wurde so oft von der Kirche verbannt, weil er mit dem Menschen etwas macht, das nicht zu kontrollieren ist. Tanz hat viel mit Liebe zu tun. Genauso wie Musik. Liebe transformiert, verändert, lässt Grenzen verschwinden. Ein liebender Mensch ist eine Gefahr für jedes System, weil er keine Grenzen kennt.

Ich nehme an, dass Patric Redl, Manuel Wagner und Matteo Haitzmann ganz andere biographische Hintergründe mitbringen als Du. Ist diese Auseinandersetzung dennoch auch ihr Thema?

Mayer: Ja, sie war total interessant, weil Patric und Manuel aus Wien sind und Matteo und ich vom Land. Mit Patric und Manuel war ich in der Staatsopernballettschule und auch im Internat. Zu der Zeit, also im Alter von 15 bis 18, war es total uncool, Volksmusik zu hören oder volkszutanzen. Daher hab ich auch irgendwann aufgehört zu der Zeit. Und nun sind die beiden voll in diesem ganzen Volkskunstthema drinnen und lieben es. Natürlich kam da gleich mal die Authentizität ins Spiel, weil Matteo und ich von Kind an damit zu tun und das Feeling in uns hatten. Aber am Ende geht es dann gar nicht mehr um Stadt oder Land, sondern auch hier wieder um die Liebe zu dem was man macht. So wurden die zwei Städter zu authentischen Experimentalvolksmusiktanzperformern.

Tribal-dance-music-experience oder schamanistisches Ritual

 

Welche Rolle spielt die Musik in dieser Produktion?

Mayer: ALMA haben uns total unterstützt - eine tolle Gruppe! Die Musik spielt eine große Rolle, hier vor allem die Brücke von traditioneller Volksmusik hin zu rituellen Rhythmen und Harmonien, die in der Volksmusik von Haus aus schon enthalten sind. Man muss also gar nicht viel machen und schon ist man in einer Art Tribal-dance-music-experience oder einem schamanistischen Ritual. Dann weiß plötzlich keiner mehr, warum man von "österreichischer" Volksmusik redet, weil es sich so universell anhört. Zumindest so wie wir es spielen.

„Ich wünsche dem HC, dass er die ‚Sunbeng’ in sich findet“

 

Wenn man sich mit Konventionen, Brauchtum und Tradition auseinandersetzt, ist der Begriff „Heimat“ nicht weit. Wie fühlt sich dieses Wort für Dich an, das etwa auch ein HC Strache dauernd im Mund führt, um Flüchtlinge auszugrenzen oder Verlustängste zu schüren. Die FPÖ konnte ja in Deinem Heimatland Oberösterreich bei den letzten Wahlen mit ihrem heimattümelnden Ausgrenzungsprogramm ihre Stimmen verdoppeln.

Mayer: Was ich vorhin zum Thema Grenzen geäußert habe, trifft beim Thema „Heimat und HC“ zu 100 % zu. Was in Oberösterreich passiert ist, ist natürlich unglaublich bedauerlich, war aber auch irgendwie vorherzusehen, weil viele Menschen genug von der Politik der Vergangenheit haben und eine Änderung verlangen - das Dumme ist nur, dass das Ganze unter dem bösen Stern eines "Fear sells"-Mottos passiert. "Sex sells" oder "Love sells" wäre besser, ist aber im Moment nicht der Fall. Es fühlt sich für mich so an, als hätte der HC ganz viel Angst. Ein ängstlicher Mensch ist meist recht gut darin, anderen Angst zu machen vor dem anderen, dem Fremden. Menschen voller Angst lassen sich leichter manipulieren. Das wissen wir von zahlreichen Beispielen aus der Vergangenheit – von Hitler bis Bush. Es tut sehr weh, dass wieder einmal mit Brauchtum, Volkskunst und Tradition Werbung gemacht wird, dass auf FPÖ-Plakaten die Trachten dominieren. Das ist für die Volkskunstszene, die sich momentan total schön und von Altlasten befreit entwickelt, echt nicht gut. Sie trägt ja ohnehin diese große Bürde, ständig mit Nazi-Propaganda oder mit rechtem Gedankengut in Verbindung gebracht zu werden. Nun werden diese Zusammenhänge für unreflektierte Menschen noch einmal verstärkt. Es wäre schön, wenn auch die Grünen mal in Lederhosen auf den Plakaten erschienen. Die dunkelbraunen Flecken der Vergangenheit müssen endlich aus den Lederhosen rausgewaschen werden.

Heimat ist dieser Ort in einem selber, der keine Wände oder Grenzen hat. Dort steht so eine kleine „Sunbeng“, auf der man sich niederlassen kann, um zu sich zu kommen, sich zu entspannen. Und wenn man da so sitzt, dann merkt man plötzlich, wie die Liebe zu sich selber und zu anderen wächst. Und man erkennt, dass "ich selber" und "der andere" dasselbe in sich tragen: eine „Sunbeng“ und den Wunsch nach Liebe. Dann verschwinden das Ich und das Du. Ich wünsche dem HC, dass er die „Sunbeng“ in sich findet und endlich zur Ruhe kommt. Dann muss er nicht mehr soviel Angst haben und kann seine Zeit und seine sprachliche Gewandtheit in Liebe investieren. In Liebe und in Heimat ohne Grenzen. Ich bau ihm auch gerne eine „Sunbeng“, wenn er die in sich nicht findet.

Brauchtumsgedanke zwecks Ausgrenzung funktioniert nicht

 

Du hast „Sons of Sissy“ schon in Norwegen, Belgien, Deutschland und der Schweiz präsentiert. Wie reagieren die Zuschauer dort auf Deine Auseinandersetzung mit der alpenländischen Tradition? Ist es für sie etwas Exotisches oder finden sie Anknüpfungspunkte?

Mayer: Da es genau genommen so etwas wie österreichisches Brauchtum nicht gibt, funktioniert es auch überall. Krümmt man den Rücken ein bisschen beim Schuhplatteln und schlägt dabei auf die Unter- statt auf die Oberschenkel, ist man sofort beim Gumbootsdance in Südafrika und Zimbabwe. Der Amerikaner Bart Platenger hat sehr viel Recherche zum Jodeln betrieben und herausgefunden, dass es überall auf der Welt Gesangstechniken gibt, die „unserem“ Jodler unglaublich ähnlich sind. Der "Mia san mia"- oder „Unser Brauchtum“-Gedanke und ähnlich Ausgrenzendes funktioniert also nicht mehr. Mein Interesse ist es, jene Tendenzen, die Menschen trennen, gegeneinander aufhetzen, die starre Grenzen schaffen und Konservatives heraufbeschwören zu erkennen und durch mein künstlerisches Schaffen Alternativen aufzuzeigen und Unheilsames in Heilsames zu verwandeln.

 

Simon Mayer: "Sons of Sissy"
Fr, 6.11. und Sa, 7.11.2015, 20.30 Uhr
tanz ist Festival
Spielboden Dornbirn
www.tanzist.at, www.spielboden.at