Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Peter Füssl · 08. Nov 2015 · Tanz

Tradition und Brauchtum tänzerisch hinterfragt und von erstarrten Konventionen und Klischees befreit – Simon Mayers „Sons of Sissy“ begeisterten beim tanz ist Festival am Spielboden

Was Simon Mayer letztes Jahr mit seinem Solo-Stück „SunBengSitting“ begonnen hat, führte er heuer mit „Sons of Sissy“ im Quartett mit Patric Redl, Manuel Wagner und Mateo Haitzmann konsequent weiter: eine gleichermaßen witzige wie radikale Hinterfragung der alpenländischen Tradition im Allgemeinen und der männlichen Rollenbilder im Besonderen.

Mann entledigt sich jeglicher Konventionen

 

Vier Männer spielen auf zwei Violinen, Akkordeon und Kontrabass schwungvolle Volksmusik und verblüffen mit einem vierstimmigen Jodler – auch so kann ein Tanzabend starten, vor allem dann, wenn sich der aus Oberösterreich stammende Tänzer und Choreograph im Spannungsfeld zwischen zeitgenössischem Tanz und jener Tradition, mit der er von seiner Herkunft her tief verwurzelt ist, auf Identitätssuche begibt. Das mündet schließlich in verschiedene Formen von Kreistänzen, deren Rhythmus zumeist durch – manchmal fast schon martialisch klingendes – Stampfen vorgegeben ist. Allerdings ist schon allein durch den Umstand, dass Matteo Haitzmann in einen langen Trachtenrock gewandet ist, gleich einmal klar gestellt, dass Mann gewillt ist, mit jeglichem Heimatabend-Kitsch radikal aufzuräumen. Folglich entlädt sich die folkloristische Gemütlichkeit sowohl musikalisch als auch tänzerisch bald einmal in wilden freien Improvisationen, und schließlich entledigt Mann sich jeglicher Konventionen, was vordergründig durch das Ablegen der Kleidung augenscheinlich wird. Fortan wird nackt getanzt und gespielt, und zwar so direkt und unverstellt, dass zwischen der blanken Haut des Individuums und dem Brauchtum Lederhose und Dirndl tatsächlich keinen Platz mehr fänden.

Hintergründiger Witz und konsequentes Hinterfragen

 

Drehte sich das traditionelle Brauchtum noch buchstäblich im Kreis, so lösen sich vorgefertigte Muster zusehends auf und tradierte männliche Rollenbilder werden völlig ins Wanken gebracht und schließlich entsorgt. Männer sollen auch die weiblichen Energien in sich akzeptieren, wünscht sich Mayer. Dass das nicht mit der Brechstange, sondern mit hintergründigem Witz und konsequentem Hinterfragen transportiert wird, macht das Ganze noch vergnüglicher. So hat es etwa zweifellos einen beachtlichen Unterhaltungswert, wenn vier nackte Männer Schuhplattln. Anstelle der aufdringlichen Stampfgeräusche reicht aber schließlich schon das rhythmisierte Atmen zwecks Taktgebung. Und nachdem beim Aperpeitschn unter ohrenbetäubendem Lärm auch noch die letzten inhaltslosen Konventionen weggeschnalzt wurden, verabschieden sich die Herren mit einem sanft intonierten Lied und entschwinden in der Dunkelheit, nachdem das warme Licht ganz langsam heruntergedimmt wurde.

"Unheilsames in Heilsames zu verwandeln“

 

„Da es genau genommen so etwas wie österreichisches Brauchtum nicht gibt, funktioniert es auch überall. Krümmt man den Rücken ein bisschen beim Schuhplatteln und schlägt dabei auf die Unter- statt auf die Oberschenkel, ist man sofort beim Gumbootsdance in Südafrika und Zimbabwe. Der Amerikaner Bart Platenger hat sehr viel Recherche zum Jodeln betrieben und herausgefunden, dass es überall auf der Welt Gesangstechniken gibt, die ‚unserem’ Jodler unglaublich ähnlich sind. Der ‚Mia san mia’- oder ‚Unser Brauchtum’-Gedanke und ähnlich Ausgrenzendes funktioniert also nicht mehr. Mein Interesse ist es, jene Tendenzen, die Menschen trennen, gegeneinander aufhetzen, die starre Grenzen schaffen und Konservatives heraufbeschwören zu erkennen und durch mein künstlerisches Schaffen Alternativen aufzuzeigen und Unheilsames in Heilsames zu verwandeln.“ Simon Mayers Absichten sind, wie er berichtet, nicht nur in Österreich, sondern auch schon in Norwegen, Belgien, Deutschland und der Schweiz voll aufgegangen. Und auch am Spielboden dürfte nach einer Stunde „Sons of Sissy“ kaum mehr jemand mit jenem Bewusstsein von Tradition, Brauchtum und männlichem Rollenbild nach Hause gegangen sein, mit dem er/sie in die Vorstellung gekommen war.

Selbst im Reigen der vielen großartigen beim tanz ist Festival gezeigten Produktionen der letzten Jahre war das ein ganz spezieller Abend!