Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 27. Apr 2014 · Tanz

Die hohe Kunst des Pas de deux – Sidi Larbi Cherkaoui zelebrierte sie mit seinen „Greatest Hits“ beim „Bregenzer Frühling“

Der flämisch-marokkanische Tänzer und Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui ist ja schon Stammgast in Bregenz. 2010 begeisterte er mit 17 Shaolin-Mönchen im Stück „Sutra“, 2011 mit „Babel“, einer ebenso tragischen wie komischen, jedenfalls genialen Abhandlung zur Hybris der Menschheit und deren göttlicher Bestrafung durch die Sprachverwirrung. 2012 bewies der im Les Ballets C. de la B. beheimatete Avantgardist, gemeinsam mit der renommierten Flamenco-Tänzerin Maria Pagés, dass gerade die gekonnte Kombination aus Gegensätzlichem zu fruchtbaren Resultaten führen kann. Dieses Mal tanzte Sidi Larbi Cherkaoui nicht selber, sondern ließ sein Ensemble Eastman eindrucksvoll demonstrieren, dass er sich als Choreograph bestens auf die hohe Kunst des Pas de deux versteht. Unter dem Titel „4D“ wurden vier aus älteren Produktionen herausgelöste Duette, sowie in der Mitte die Videoproduktion Valtari“ zur Musik der isländischen Kultband Sigur Rós gezeigt. Um es gleich vorweg zu nehmen: ein makelloser Abend!

Matter

Als witziger kleiner Affe wuselt Kazutomi Tsuki Kozuki mit unglaublicher Beweglichkeit um Guro Nagelhus Schia herum und verwandelt sich tänzerisch und pantomimisch in all jene Dinge, die diese gerade braucht – vom Lampenschirm über die Dusche zum Bademantel, vom Bett zum Liebhaber. Das korrespondiert auf wundersame Weise mit einer überlebensgroßen, scherenschnittartigen Darstellung der jeweiligen Vorgänge im Hintergrund, intensiviert durch eine emotional aufwühlende Mischung aus sephardischen und syrischen Gesängen. Die Frau dominiert das Geschehen mit  der Perfektion aus dem Yoga entlehnter Figuren, der Mann unterwirft sich völlig, macht sich zum willfährigen Werkzeug, wenn es um die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse geht. Dass dieses eindrucksvolle Spiel um Macht und Unterwerfung, die zentrale Sequenz aus dem 2008 entstandenen Stück „Origin“, in eine minutenlange Kamerafahrt durch eine Shopping-Mall mündet, lässt wenig Hoffnung aufkommen. Da kann auch die perfekte Ästhetik der getanzten Bilder nicht darüber hinwegtäuschen.

Pure

Mit ihrem norwegischen Landsmann Vebjørn Sundby als Partner zelebriert Guro Nagelhus Schia anschließend im Duett „Pure“ in wunderbar fließenden, anschmiegsamen, sich ineinander verwickelnden Bewegungen die romantischen Vorstellungen von reiner Liebe. Doch die Liebenden werden getrennt, und die Harmonie zerbirst. Die in reines Weiß gekleidete, alleingelassene Frau bemalt sich mit schwarzer Farbe – die Reinheit geht verloren und ist auch nach der Rückkehr des Mannes nicht wieder herzustellen, sosehr er sich auch bemüht, die Farbe mit einem Tuch von ihrem Körper abzureiben. So verzweifelt der Mann auch ihre Nähe sucht, streben die Bewegungen doch auseinander, die zerbrochene Liebe ist nicht zu retten. Schließlich lässt er sie gehen und wandert allein in einen überdimensionalen roten Sonnenuntergang hinein. Avantgardistisches Experiment und am Kitsch anstreifendes Klischee sind bei Sidi Larbi Cherkaoui eben keine No-Go-Kombination.

Sin

Das vor zwei Jahren entstandene Video zum Sigur Rós-Song „Valtari“, das die spannungsgeladene Performance von James O’Hara und Nicola Leahey in einer völlig heruntergekommenen Industriehalle zeigt, war das passende Zwischenspiel vor „Sin“,  dem durch und durch düsteren Kernstück aus der Produktion „Babel“. Hier treffen Navala ‚Niku’ Chaudhari und Damien Fournier in einem furiosen Duett der Lust aufeinander, ein Paarungsritual, in dem es um Leben und Tod geht, um glutvolle Leidenschaft und archaische Gewalt. All das spielt sich in der Düsternis ab, potenziert durch eine gespenstische Verdoppelung in einem über dem Paar schwebenden Spiegel. Der Psycho-Thriller unter diesen grandiosen Pas de deux!

Faun

Sidi Larbi Cherkaouis Variante des Ballettklassikers „L’après-midi d’un Faune“ spielte auch ganz klassisch in einem durch magische Lichteffekte erschaffenen märchenhaften Zauberwald. Olivia Ancona als wunderschöne Waldelfe und Jon Filip Fahlstróm als Faun brillieren in diesem unglaublich stimmungsvollen Duett um Verführung und sexuelles Erwachen. So, wie der experimentierfreudige indischstämmige Brite Nitin Sawhney Claude Debussys Sinfonische Dichtung um zeitgenössische Töne erweitert, lässt auch Cherkaoui seine eigene Mythenwelt absolut stimmig in diese Neuinterpretation einfließen. Ein grandioser Abschluss für einen durch und durch stimmigen Abend, an dessen fesselnder Atmosphäre auch die aus hervorragenden Weltmusikern und SängerInnen zusammengestellte Live-Band einen nicht unwesentlichen Anteil hatte.