Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 30. Mär 2014 · Tanz

Brachiales Rock-Spektakel und düstere Tanzshow – Hofesh Shechter brach mit seinem beklemmenden Erfolgsstück „Political Mother“ den Dezibel-Rekord beim „Bregenzer Frühling“

Der 39-jährige israelische Musiker, Tänzer und Choreograph hat in den letzten Jahren via London die Tanzwelt mit seinen außergewöhnlichen Produktionen im Sturm erobert. Mit seinem ersten abendfüllenden Stück, das 2010 uraufgeführt wurde, hat er das nicht rockaffine Publikum mit seinen lautstarken Soundattacken ebenso irritiert, wie mit seinen zwischen Frustration und Aggression pendelnden Assoziationen zur Rolle des stets in der Gefahr der Selbstauslöschung schwebenden Individuums in einer totalitären Gesellschaft. Eine gute Stunde höchst intensiver akustischer und visueller Erfahrungen, die kaum einmal Entspannung zuließen.

Bedrohliche Soundattacken, albtraumhafte Bilder

 

Zum Auftakt durchbohrt ein Samurai zu elektronisch verfremdeten Klängen aus dem Verdi-Requiem mit einem Schwert seinen Körper – nach dieser ritualisierten Selbstauslöschung in ihrer extremsten Form schickte Shechter das Publikum mit einer von ihm komponierten hämmernden Industrial-Rock-Sequenz in eine düstere, von dichten Nebelschwaden erfüllte Bilderwelt, die Assoziationen zu diktatorischen Lebensverhältnissen weckt. Vier Gitarristen, vier Drummer und ein an die brasilianische Death-Metal-Band Sepultura erinnernder Brachial-Vokalist füllen auf zwei Ebenen verteilt die gesamte Bühnenhöhe aus und wirken ob dieser optischen Präsenz durchaus bedrohlich, wenn sie mit ihren Soundattacken auf Publikum und Tanzensemble gleichermaßen einpeitschen. Da wird nicht mit der feinen Klinge gefochten, da gibt es kaum einmal Entspannung oder gar Entwarnung. Der wütende Angriff auf die Ohren begleitet albtraumhafte Bilder von Unterdrückung und Unterwerfung, von Manipulation, Aggression und Resignation. Da gibt es keine Handlung, kein erkennbares Gedankengerüst, an das man sich irgendwie klammern könnte. Da geht es darum, Atmosphäre zu schaffen - „Political Mother“ zielt voll auf die Gefühlsebene ab.

Zwanghafte Verhältnisse zwischen Individuum und Gesellschaft

 

Die unglaublich schnellen und energievollen TänzerInnen und Tänzer bewegen sich oft wie fremdgesteuert, unterliegen einem Gruppenzwang – sind Bedrängte und Verführte zugleich. Hofesh Shechter lässt die Grenzen zwischen Fans, die ihren Rockstar anhimmeln und Bürgern, die einem Diktator als gehorsame Untertanen bedingungslos huldigen, bewusst verschwimmen. Die Zwänge, denen das Individuum heutzutage in jeglicher Gesellschaft ausgesetzt ist, beschränken sich eben bei weitem nicht nur auf jene in Diktaturen. Mit Joni Mitchells „Both Sides, Now“ klingt dieser optisch-akustische Dauerbeschuss der Sinne fast schon kitschig aus, aber das darf man ebenso zynisch verstehen wie die einzige in ihrer Doppeldeutigkeit eindeutige Botschaft des Abends: „Where there ist pressure there is folkdance.“ Wie die über weite Strecken bedrohliche Musik mit folkloristischen, manchmal orientalisch anmutenden Elementen versetzt ist, dienen auch charakteristische Bewegungsformen israelischer Volkstänze als Ausgangsvokabular, die aber in diesem Zusammenhang alles andere als heiter oder ausgelassen wirken. Der Volkstanz vermag Identität zu stiften und ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln und so das Individuum zu stärken, er kann aber ohne weiteres auch ins Gegenteil pervertiert und als Zwangsinstrument  zur Pflege autoritärer Herrschaftsformen eingesetzt werden. Ein (nicht nur laut-)starkes Statement auf der Tanzbühne!