Neu in den Kinos „Here" (Foto: DCM)
Fritz Jurmann · 14. Aug 2012 · Musik

Trotz des überraschenden Nazi-Eklats: Der neue Bayreuther „Holländer“ begeistert – und das inmitten einer Welt von Ventilatoren …

Es ist in Bayreuth seit langem Mode geworden, bei Neuinszenierungen zumeist die Dirigenten zu bejubeln und die Regisseure auszubuhen. Zugegeben, manches Mal auch zu Recht, wenn sie mit ihren Einfällen gegen die Musik inszenierten. Bei der einzigen Novität dieses Sommers, Richard Wagners kürzester und populärster Oper „Der fliegende Holländer“ (Spieldauer „bloß“ pausenlose zweieinviertel Stunden), traf das Buhkonzert der Premierenbesucher und später ebenso der fast einmütige Bannstrahl des deutschen Feuilletons mit dem vom Schauspiel kommenden Jan Philipp Gloger freilich einen Unschuldigen.

Dem Bayreuth-Debütanten gelingt am Grünen Hügel eine zwar zeitgemäße, aber nicht überfordernde, dafür in sich schlüssige, mit vielen neuen Ideen aufgepeppte und auch konsequent zu Ende gedachte Inszenierung. Eine tadellose bis herausragende Besetzung und vor allem Dirigent Christian Thielemann als klangzaubernder „Hausgott“ der Festspiele komplettieren auch bei der vierten Vorstellung am vergangenen Sonntag den Eindruck eines in jeder Hinsicht gelungenen neuen Bayreuther „Holländer“.

Titelheld drei Tage vor der Premiere gefeuert

Der Kultur-Eklat, der sich im Vorfeld dieser Produktion begab und bloß die Werbewirkung des ohnehin achtfach überbuchten Festivals noch steigerte, dürfte bekannt sein. Drei Tage vor der Premiere feuerten die Festspiele ihren Titelhelden in der Person des international gefeierten russischen Bassbaritons Evgeny Nikitin. Der Grund: Es war ein Video aufgetaucht, in dem der Sänger in seiner Jugend als Mitglied einer Heavy-Metal-Band mit eintätowierten Nazisymbolen auf seinem nackten Oberkörper agierte. Die beiden Chefinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier zögerten keinen Moment mit diesem Schritt der Distanzierung.

Diese bleibt allerdings ein scheinheiliger Sturm im Wasserglas und eine halbe Sache. Denn viel wichtiger wäre es für die beiden Halbschwestern, einmal vor der eigenen Haustür zu kehren und sich von der braunen Vergangenheit ihrer Festspiele loszusagen. Denn Bayreuth, Wagner und der Nationalsozialismus – das ist bis heute ein ganz sensibler, nie wirklich aufgearbeiteter Bereich, gehörte der „Führer“ doch damals als „Onkel Wolf“ quasi zur Familie mit der unseligen Winifred und besuchte oft und gerne Bayreuth mit der von ihm so geliebten Musik Richard Wagners.

Weltweit eine der meistgespielten Opern

Konfliktfrei ist auch die Rezeptionsgeschichte des „Fliegenden Holländer“ nicht verlaufen. Die Uraufführung des Werkes 1843 am Dresdner Hoftheater war ein nur mäßiger Erfolg, Eingang zu den von Wagner 1876 gegründeten Bayreuther Festspielen fand die Oper gar erst 1901, also 18 Jahre nach dessen Tod. Mittlerweile entstanden dort zehn verschiedene Inszenierungen, weltweit gehört der „Holländer“ heute zu den meistgespielten Opern. Kein Wunder, denn die gruselige Geschichte vom untoten verfluchten Seefahrer, der ruhelos auf den Weltmeeren kreuzt, bis eine Frau ihn aus der ewigen Unrast befreit, hat Generationen von Opernfreunden begeistert. Das Motiv der Erlösung durch opferbereite Liebe bildet hier erstmals in Wagners Schaffen den innersten Kern der Handlung – ein ideologisches Leitmotiv, das auch seine weiteren Musikdramen von „Tannhäuser“ bis „Parsifal“ durchzieht.

Die Keimzelle der Oper ist dementsprechend auch die Ballade der Senta im zweiten Aufzug, in der sie den Seefahrer wie in Trance sieht, bevor er dann leibhaftig bei ihr auftaucht. Und hier setzt nun in Bayreuth die sehr musikkonforme Arbeit des Regisseurs an, der Sentas Vater Daland, der sich durch die Beziehung des begüterten „Holländers“ mit seiner Tochter Reichtum und Ansehen erhofft, zum Chef einer Ventilatoren-Fabrik macht. Wagner also im Turbo-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts? Das ist gar nicht so abwegig, wie man vielleicht annehmen könnte, denn der berühmte „Spinnerinnen-Chor“ legt den Text „Summ und brumm, du gutes Rädchen“ nun vom Spinnrad eben auf die Flügel dieser kleinen Windmaschinen um, die hier gefertigt und von fleißigen Händen in unzählige Pappkartons verpackt werden.

Bauchstich statt Klippensturz

Dalands Adlatus, der Steuermann, wird später in seiner Rolle in der Fabrik zu einer Art Spielmacher, zum windigen Aufpasser über die Arbeiter aufgewertet. Senta erlöst den „Holländer“ nicht, wie im Libretto vorgesehen, durch einen Sturz von den Klippen ins Meer, sondern durch einen vom Seefahrer synchron mitvollzogenen Messerstich in den Leib, alles in einem von Schattenspielen mystifizierten Ambiente. Und von da an werden in der Fabrik statt Ventilatoren nur noch kleine Sentas und Holländers hergestellt … Ein sehr unorthodoxes, aber in seiner Konsequenz faszinierendes Finale, bei dem alles wunderbar aufgeht und sich rundet.

Die Ausstattung (Bühne: Christoph Hetzer, Kostüme: Karin Jud) ist, auch in Bayreuth nicht mehr selbstverständlich, von pompöser Eindrücklichkeit: Stahlgestelle bis zur Decke mit flackernden Neonröhren und stetig bewegten leuchtenden Zahlenreihen symbolisieren die Geschäftigkeit in der Welt Dalands, in die der Holländer als düsterer Kontrapunkt vorstößt. Zuvor gibt es, ganz konventionell bei geschlossenem Vorhang und unbebildert, die berühmte Ouvertüre mit den genial symphonisch verarbeiteten wichtigsten Themen aus der Oper. Und schon damit lässt Christian Thielemann an der Spitze des wie immer ungemein vielschichtig und transparent musizierenden, im Graben unsichtbaren Festspielorchesters aufhorchen, stellt weiter mit sehr differenzierten Tempi den idealen Kontakt zur Bühne her und besitzt auch den Mut zu langen Generalpausen, gewissermaßen Ausrufezeichen für das Gesagte.

Chor und Orchester sind in Bayreuth stets Grund zur Freude

Im selben Atemzug muss auch der Bayreuther Festspielchor genannt werden, der unter Eberhard Friedrich wie praktisch jedes Jahr zu einsamer Größe und Klangpracht emporwächst. So packend und mit solcher Kraft, dabei mit so viel sinnvoller Choreographie versehen, hat man den berühmten „Steuermann“-Chor wohl noch nie gehört. Der Koreaner Samuel Youn, als Einspringer in der Titelpartie über Nacht zum Star geworden, singt einen stabilen Holländer mit tenoralem Einschlag seines Baritons, das Dämonische dieser Figur sucht man bei ihm freilich vergebens. Beim Applaus nach der Premiere kniete er vor lauter Erleichterung über den Erfolg seines Harakiri-Unternehmens vor dem Publikum nieder.

Die Idealfigur einer emanzipierten Senta ist die Kanadierin Adrianne Pieczonka, die mit ihren makellosen Spitzentönen, ihrer Dramatik ebenso begeistert wie mit ihrer samtenen Lyrik und am Sonntag zu Recht den größten Anteil im Jubelsturm erntet, der am Ende 15 Minuten lang durch das altehrwürdige Festspielhaus braust. Benjamin Bruns als Steuermann wächst mit seinem aufsehenerregend hellen, mühelosen Tenor, den man gerne einmal bei einem Schubertiade-Liederabend hören würde, auch schauspielerisch weit über die Bedeutung hinaus, die Wagner dieser Rolle eigentlich zugedacht hat. Franz-Josef Selig als smarter Geschäftsmann überzeugt auch stimmlich mit seinem volltönenden Bass, Michael König als  verschmähter Liebhaber Erik und Christa Mayer als Mary agieren solide.

Kommunale Querelen um Renovierung der Villa Wahnfried

Während dieser neue Bayreuther „Holländer“ also vorderhand vor allem über Musik und Besetzung beim verwöhnt kundigen Publikum angekommen ist, haben die Einwohner des fränkischen Städtchens allen Grund, sich über kommunale Unzulänglichkeiten im Umgang mit ihrem Säulenheiligen Richard Wagner zu ereifern. Bereits im Vorjahr wurde die zu einem Museum umgestaltete Villa Wahnfried, das einstige Wohnhaus des Meisters in Bayreuth, in dessen Garten er samt Frau Cosima und Hund Russ auch begraben ist, einer Renovierung unterzogen und blieb damit für Besucher geschlossen. Dieser Zustand hält infolge lokalpolitischer Querelen unvermindert auch heuer an und soll sich auch auf das nächste Jahr erstrecken, in dem immerhin der 200. Geburtstag Wagners mit einer Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“ begangen wird (am Pult: „unser“ Kirill Petrenko). Da ist nur noch Kopfschütteln angesagt …