Neu in den Kinos: "The crow" (Foto: Leonine)
Fritz Jurmann · 13. Aug 2019 · Musik

Sooo schön traurig: Junges Opernstudio taucht „Eugen Onegin“ in eine starke Gefühlswelt

Die Vorgaben für die heurige fünfte Produktion im Opernstudio der Bregenzer Festspiele waren nach einem von Brigitte Fassbaender im Vorjahr grandios verjuxten „Barbier von Sevilla“ von Rossini extrem hoch. Doch der fantasievolle Regisseur Jan Eßinger (36) lieferte heuer ein Beispiel inspirierten Bühnenhandwerks und konnte mit seiner Inszenierung von Tschaikowskys Opernknüller „Eugen Onegin“ gegen die große Meisterin glänzend bestehen. Das zeigte sich bei der ausführlich bejubelten Premiere am Montagabend am Kornmarkt, auch wenn beide Projekte aus ganz verschiedenen Genres stammen und nicht direkt vergleichbar sind.

Dazu kam eine gesanglich und schauspielerisch fantastisch ausgewählte, hoch motivierte Besetzung aus dem Projekt „Neue Stimmen“ und mit dem Russen Valentin Uryupin ein Dirigent, der mit Herzblut arbeitete und das akustisch problematische Haus endlich einmal in den Griff bekam. Bei ihm war das Orchester nie zu laut, und er hat unser Symphonieorchester Vorarlberg dafür mit einem Schlag zum flexiblen, klangschön aufblühenden Opernklangkörper gemacht, wie man es auf diesem Level selten erlebt hat. Das SOV erstrahlte selbstbewusst in den Orchesterzwischenspielen wie dem eleganten Geschwindwalzer zum Ball, wie ihn so nur ein Tschaikowsky schreiben konnte, oder der Polonaise, und nahm sich bei der Begleitung der Sänger vornehm zurück. Ein falscher Holzeinsatz am Beginn und schlecht intonierende Celli bei der Lenski-Arie sind angesichts dieser tollen Gesamtleistung zu vernachlässigen.

Erstmals in Vorarlberg

Die Oper „Eugen Onegin“ ist, niemand weiß warum, in Vorarlberg bislang auf allen zur Verfügung stehenden Bühnen noch nie aufgeführt worden – auch in dieser Hinsicht also eine Premiere. Der Plot dreht sich um die unglücklich endende Liebesgeschichte unter jungen Leuten im alten Russland, die der Komponist für Studenten des Moskauer Konservatoriums geschrieben hat. Grundlage bildete dabei das berühmte Versepos von Alexander Puschkin mit allen dazugehörigen Gefühlsebenen des Zwischenmenschlichen, die sich haarscharf in der Musik Tschaikowskys widerspiegeln.
Da ist alles drin zwischen zartester Lyrik und groß auftrumpfender Leidenschaft in Melodien, von denen einige längst zu Wunschkonzert-Ohrwürmern geworden sind. Es ist Musik, die einen zum Dahinschmelzen bringt, aus Freude und Begeisterung, oft genug aber auch mit der berühmten verdrückten Träne im Knopfloch, weil das alles einfach sooo schön traurig endet. Und genau deshalb hat Tschaikowsky dieses handlungsarme, aber umso gefühlsreichere Werk, dessen Ablauf sich in zwei Sätzen erzählen lässt, nicht Oper genannt, sondern „Lyrische Szenen“.

Typengerechte Besetzung

Das trifft es nun auf den Punkt und gibt Regisseur Eßinger und seinem Bühnenbildner Nikolaus Webern Gelegenheit, die sanft anlaufende Handlung des ersten Aktes, der „auf dem Lande“ spielt, auf einer sumpfig scheinenden Wiese auszubreiten. Dort leben die typengerecht besetzten Figuren der Handlung. Es sind die verwitwete Gutsbesitzerin Larina und ihre beiden Töchter, die dralle und dümmliche Olga und ihre unschuldig verträumte Schwester Tatjana von knabenhafter Figur, dazu die Amme Filipjewna.
In die ländliche Idylle kommt Leben, als der mit Olga verlobte Dichter Lenski erscheint und seinen Freund mitbringt, den Lebemann Onegin, in den sich Tatjana Hals über Kopf verliebt. Doch der weist ihr Ansinnen zurück, das sie gegen alle Gepflogenheiten der damaligen Zeit in einem Brief niederschreibt, macht dafür lieber Olga den Hof, was zum Streit mit seinem Freund Lenski und schließlich zum Duell führt, bei dem dieser stirbt. Als sich Jahre später Onegin und Tatjana, die inzwischen als Gattin eines reichen Fürsten in besten Verhältnissen lebt, wiedersehen, flammt auch bei ihm die einst unterdrückte Liebe leidenschaftlich auf, doch Tatjana ist eine standhafte Ehegattin. Onegin bleibt gebrochen zurück.

Regisseur als Geschichtenerzähler

Diese Vorlage eröffnet Eßinger vielerlei Möglichkeiten, als Geschichtenerzähler die Charaktere seines Bühnenpersonals detailliert auszuarbeiten, deren Gefühlswelten in genau gewichteter Abstimmung zueinander auszuloten und damit eine Spannung zu erzeugen, die einen unversehens immer mehr gefangen nimmt. Die fast zwei Stunden bis zur Pause vergehen wie im Flug. Und weil Eßinger das bei Puschkin noch allgemein übliche Ritual eines Duells als Sanktion für erlittene Kränkung in seiner im Heute angelegten Inszenierung gar so altbacken erschien, hat er sich dazu als bisher streng geheime Überraschung eine Art tröstliche Abmilderung für das Publikum einfallen lassen.
Im dritten Akt, bevor sich die beiden Liebenden wieder begegnen, wird die berühmte festliche Polonaise zum Trauermarsch, wenn bei gedämpftem Licht die Familie einen Kondukt für den aus dem letzten Akt noch am Boden verbliebenen Verblichenen bildet. Und mehr noch: Wie in einer Erscheinung wird die Szene in gedämpftem Licht irreal, der Tote erhebt sich, umarmt seinen Mörder. Plötzlich ist das Rad der Zeit um Jahre zurückgedreht. Ein etwas skurriler Einfall, der allerdings auch die Bezeichnung „Bregenzer Fassung“ für das Werk rechtfertigt.

Der Chor kommt aus der Steckdose

Aber es gibt noch mehr an Überraschungen. Weil angeblich ein Chor in notwendiger Stärke auf der engen Bühne keinen Platz gefunden hätte, behalf man sich mit Zuspielungen, die in Perm von einem Profichor eingesungen wurden. Das ist der Wirkungsort des jungen Ausnahmedirigenten Teodor Currentzis, bei dem Valentin Uryupin, der Dirigent des Abends, assistiert. Man bedient sich am Beginn eines alten Plattenspielers, der mit viel Geknister ein altes russisches Volkslied mit diesem Chor abspielt. Im weiteren Verlauf bleibt dieser sehr kompakte Chor, bei dem neben dem Klang die Präzision beeindruckt, mit der mehrere Zuspielungen live durch das Orchester begleitet werden. Weniger erbaulich ist naturgemäß der Lautsprecherklang dieser Stimmen, der sich deutlich vom unverstärkten Originalklang der Solisten und des Orchesters abhebt.   
Der Gesang in russischer Sprache gibt dem Geschehen größte Authentizität und ist nicht gar so abenteuerlich weit hergeholt wie es scheint, weil der Großteil der Sänger  nämlich aus dieser Gegend stammt und damit in ihrer Muttersprache singt, diesem irgendwie archaischen, gutturalen, dunkel gefärbten Idiom von ganz eigenem Reiz. Nur die Darstellerin der Tatjana, die junge israelische Sopranistin Shira Patchornik, musste sich das Russische für dieses Rollendebüt wohl über einen Coach aneignen. Dass sie in einem Ensemble praktisch ohne Fehl und Tadel auf Anhieb zur Idealbesetzung dieser fordernden Partie wird, ist eines der kleinen Wunder im Musiktheater. Ihre zarte gesangliche Lyrik, die sie noch in der berühmten Briefszene „Und sei’s mein Untergang“ als dem psychologischen Meisterstück der Oper entfaltet, wird zur dramatischen Leidenschaft im Finale, wo sie auch darstellerisch eine glaubhafte Wandlung zur stolzen Fürstin vollzieht.  

Tragende Tenorpartie der Opernbühne

Auch ihr Partner als Eugen Onegin, Ilya Kutyukhin, setzt seinen tragenden Bariton  natürlich in Szene und wächst vom arroganten Lebemann glaubhaft zum leidenschaftlich Liebenden, dem man am Schluss seine Tatjana gegönnt hätte. Die ebenso wichtige Rolle seines Freundes und späteren Gegenspielers Lenski ist eine der großen tragenden Tenorpartien der Opernbühne. Alexey Neklyudov verkörpert sie sympathisch und mit großer Intensität. Seine große Arie „Wohin seid ihr entschwunden“, in der er bereits seinen Tod vorausahnt, ist ohne Weinerlichkeit von starker Ausdruckskraft und Glaubwürdigkeit und erinnert manche Zuseher an den unvergessenen Tenor Fritz Wunderlich.
Seine Verlobte Olga wird von Aytaj Shikhalizada mit einem wunderbar tragenden Alt ausgestattet, sie sorgt in ihrer Unbedarftheit immer wieder auch für komödiantische Momente. Seriöse Fixpunkte der Handlung sind die beiden sicheren und spielfreudigen Mezzosoprane, Gutsherrin und Mutter Larina mit der Deutschen Judith Thielsen und Amme Filipjewna mit Liuba Sokolova. Der Tiroler Tenor David Kerber sorgt in einer köstlichen Einlage als französischer Gast Triquet mit einem Couplet für Erheiterung, die ganze Schwärze eines wirklichen Basses führt Igor Korostylev als Fürst Gremin und späterer Gatte Tatjanas und Sekundant imposant ins Treffen.
Hingehen, anschauen – es zahlt sich aus!

Dauer: ca. drei Stunden inklusive Pause

Weitere Vorstellungen:
Di, 13. / Do, 15. / Sa, 17. August, jeweils 19.30 Uhr, Theater am Kornmarkt