Ethan Coen hat seinen ersten Spielfilm als Soloregisseur gedreht: „Drive-Away Dolls“. (Foto: Focus Features)
Silvia Thurner · 11. Nov 2019 · Musik

Resonanzen von Literatur in der Musik erleben – Das Festival „Texte und Töne“ war ein großer Erfolg und bescherte dem ORF ein volles Haus

„Texte und Töne“ als Gemeinschaftsprojekt des ensemble plus mit dem Symphonieorchester Vorarlberg, Literatur Vorarlberg und des ORF-Landesstudios fand in diesem Jahr genau am Gedenktag der Novemberpogrome statt. Die Erinnerung an die denkwürdigen Ereignisse wurde zum Leitgedanken des Festivals und verlieh diesem eine große inhaltliche Dichte. Zahlreiche dargebotenen Werke und Performances, unter anderem von Nikolaus Brass, Tobias Fend und Nikolaus Feinig, David Soyza, Richard Dünser und Dietmar Kirchner nahmen Bezug auf existenzielle und auch aktuelle gesellschaftspolitische Fragen und ermöglichten Hörerlebnisse, die lange nachwirkten.

Texte und Töne miteinander in Verbindung zu bringen, ist der wesentliche Leitgedanke des Festivals, das seit dem Jahr 2011 von Andreas Ticozzi und dem ensemble plus sowie dem Symphonieorchester Vorarlberg, Bettina Barnay, Jasmin Ölz und Literatur Vorarlberg getragen wird.

Das Historische in Beziehung zu heute setzen

Eine in all den Jahren selten gebotene Stringenz in der Verbindung zwischen diesen beiden künstlerischen Genres schufen der Schriftsteller und Schauspieler Tobias Fend von der Theatergruppe Café Fuerte und der Kontrabassist Nikolaus Feinig mit ihrer Performance „Pogrom“, einem Erinnerungsstück zum 9. November 1938. Tobias Fend brachte mit seinen eindrücklichen Geschichten das Unrecht und die gesellschaftspolitische Aktualität auf den Punkt. Am Kontrabass unterstrich Nikolaus Feinig die Worte. Darüber hinaus verteilten die Künstler Orgelpfeifen und Donnerbleche, machten auf diese Weise die Zuhörenden zu Mitwirkenden und verstärkten das aktive Erleben enorm.

Erinnern ist das Wichtigste

Im Rahmen des Orchesterkonzertes brachte das Symphonieorchester Vorarlberg unter der Leitung des australischen Dirigenten Daniel Linton-France und Hubert Dragaschnig als Sprecher das Werk „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ von Nikolaus Brass zur Uraufführung. Der im Exil entstandene Texte des Hohenemser Schriftstellers Jean Améry (vormals Hans Mayer) handelte von der Ambivalenz zwischen Heimatliebe und Heimathass. Die dafür komponierte musikalische Deutung des Textes des Lindauer Komponisten Nikolaus Brass überzeugte auf allen Linien. Nicht nur die intensiven musikalischen Bilder, sondern auch die psychologische Zwischenebene kamen im hervorragend ausgestalteten Orchesterpart voll zur Geltung. Hubert Dragaschnig trug den Text mit großer Zurückhaltung vor und verstärkte genau damit den Nachdruck des aussagekräftigen Textes.

Chancen aufgreifen und nutzen

Die Uraufführung im ORF-Studio wurde einhellig begeistert aufgenommen. Klar wurde in vielen Reaktionen der Zuhörenden, dass ein Werk dieses Formats in das Orchesterabonnemente des Symphonieorchesters Vorarlbergs gehört und nicht „nur“ ins Publikumsstudio. So gesehen bestätigte sich der Eindruck, dass das SOV durch die Vergabe von Kompositionsaufträgen lediglich für das Festival „Texte und Töne“ auch große Chancen vergibt. Mut und das Vertrauen der Programmgestalter in die Komponistinnen und Komponisten unserer Zeit brächte aussagekräftige neue Werke zu den Menschen.
Abgerundet wurde das Orchesterkonzert mit Victor Ullmanns Orchestermelodram „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Der Bariton Martin Achleiter gestaltete den Sprechpart intensiv aus. Zusammen mit den plastisch dargebotenen Orchesterpassagen verstärkte sich die Aussagekraft. Die Zuhörenden im bis auf den letzten Platz besetzten Publikumsstudio hörten gebannt und mit großer Aufmerksamkeit zu.

Ins Innere hinein hören

Unter der Leitung von Thomas Gertner stellte das ensemble plus auch bei dieser Festivalausgabe seine Vielseitigkeit unter Beweis. Von Dietmar Kirchner wurden zwei Werke uraufgeführt. In „Tamuke“ spielte der Flötist Erich Tiefenthaler die japanische Shakuhachi und kristallisierte gemeinsam mit den Ensemblemusikerinnen und -musikern die Gegensätze zwischen fernöstlichen Modi und europäisch ausgestalteten musikalische Phrasen heraus und stellte sie wirkungsvoll zueinander in Beziehung. Im Sinne der spektralen Musik komponierte Dietmar Kirchner das Werk „Das unhörbare hörbar machen“, das ebenfalls erstmals aufgeführt wurde. Dabei zogen gut instrumentierte und ausbalancierte Klangereignisse die Aufmerksamkeit auf sich.
David Soyza nahm in seinem Werk „Down“ Anlehnung an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren. In sein Ensemblestück, das von einem melodischen Jazz aus konzipiert war, brachte sich der Musiker mit einen Solopart am Vibraphon mit ein. Im Zusammenwirken mit dem Ensemble entwickelte sich ein klangsinnliches und gut nachvollziehbares musikalische Erlebnis.

Vom Text inspiriert

Richard Dünser war mit drei Werken bei „Texte und Töne“ vertreten. „Landschaft mit Regenbogen“ wurde vergangenes Jahr vom SOV uraufgeführt und erklang nun erstmals in Kammermusikbesetzung. Der Kavierpart auf der einen Seite sowie die Perkussion auf der anderen Seite verliehen dem Werk Profil und verstärkten den vielfarbigen musikalischen Gestus. Dass Richard Dünser viel Anleihung bei der Spätromantik findet, zeigten auch die Orchesterlieder „Die letzten Dinge für Bariton und Kammerorchester“, die vom SOV mit den ausgezeichneten Bariton Martin Achrainer interpretiert wurden. In Dünsers „Canta en el viento frio“ für Streichtrio formten Michaela Girardi (Vl), Andreas Ticozzi (Va) und Detlef Mielke (Vc) die Bezüge zwischen der literarischen Vorlage aus Pablo Nerudas Gedicht „Ode an den Regen“ und der Musik plastisch aus.

Mit freudvollen Tönen entlassen

Abgerundet wurde das abwechslungsreiche Festival mit der Uraufführung von Roché Jennys Ensemblestück „Diptychon“. Thomas Gertner, die Musikerinnen und Musiker des ensemble plus mit Martin Gallez am Klavier, Dietmar Kirchner am Bass sowie Stefan Halbeisen an den Drums spielten mit sichtlichem Vergnügen das unterschiedliche Episoden durchlaufende unterhaltsame Werk, das gut proportioniert viele musikalische Stile streifte.
Originell machten Cornelia Baumgartner und Felix Kalaivanan in ihrem beklemmenden Hörspiel „Schlamm“ das dazugehörige Sounddesign live erlebbar. Bella Angora ergänzte mit ihrer Performance „just happy“ den langen „Texte und Töne“-Marathon.

Abschiede feiern

Nach gleich zwei Abschieden geht „Texte und Töne“ ab nächstem Jahr in eine neue Ära. Andreas Ticozzi übergab die künstlerische Leitung des ensemble plus und somit auch die Programmgestaltung von „Texte und Töne“ an seinen Musikerfreund Guy Speyers. Eine Diaschau erinnerte an viele außergewöhnliche Konzertereignisse und freundschaftliche Begegnungen während der vergangenen 20 Jahre. Mit Jahresbeginn wirkt Bettina Barnay als Geschäftsführerin beim „Montagsforum“. Nach ihrem Weggang wird sich die ORF-Leitung sehr anstrengen müssen, um für die Ausgabe von „Texte und Töne 2020“ eine derart eloquente und kompetente Moderatorin zu finden.