Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Fritz Jurmann · 09. Jul 2022 · Musik

Opernstudio der Festspiele: Eine so kluge Fassbaender-Inszenierung verträgt sogar etwas Klamauk

Das war schon recht ärgerlich im Vorjahr: Keine andere Aufführung der Bregenzer Festspiele 2021 musste wegen Corona abgesagt werden, nur die vier Aufführungen des Opernstudios mit Rossinis Buffo-Köstlichkeit „Die Italienerin in Algier“, weil ein Ensemblemitglied am Tag der Premiere positiv getestet worden war. Monatelange intensive Vorarbeiten und Proben waren mit einem Schlag wie weggewischt. Aber natürlich nur für den Moment, denn als man sich von der Schrecksekunde erholt hatte, begannen auch schon die Terminplanungen mit Solisten, Chor, Orchester und Bühne, um die Produktion möglichst unverändert als eine Art turbulente Ouvertüre vor den diesjährigen Festspielen neu anzusetzen. Und nach der grandios unjubelten Premiere am Freitag im vollbesetzten Kornmarkttheater lässt sich einhellig feststellen: Das Warten hat sich gelohnt!

Übermut und Improvisationsfreude

Auch wenn das Werk bereits über zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat – so jung, so unverbraucht, voll Übermut und Improvisationsfreude wie hier hat man Rossinis „Italienerin in Algier“ wohl selten erlebt. Das beginnt genau genommen schon beim erst 21-jährigen Komponisten, der diese Opera buffa 1813 im vollen Saft seiner Schöpferkraft in 18 Tagen aus dem Ärmel geschüttelt hat. Die Besetzung mit aufgeweckten, hungrigen und unglaublich spielfreudigen Sängern aus der Meisterklasse eines toll aufgestellten Opernstudio-Ensembles ist kaum älter, auch das Symphonieorchester Vorarlberg ist mit erfahrenen jungen Musikern besetzt, die unter dem kundigen Italiener Jonathan Brandani Rossini mit Brillanz und Brio spielen, als gälte es ihr Leben.    
Dies alles wäre wohl kaum der Rede wert, stünde da nicht über alledem als Regiehoheit eine Art allumfassende Schutzmantel-Madonna in der gesammelten Lebenskompetenz und Erfahrung einer Brigitte Fassbaender mit ihren – man darf es nach ihrer wunderbaren Biografie „Komm aus dem Staunen nicht heraus“ wohl verraten – mittlerweile seit ein paar Tagen unglaublichen 83 Jahren. Als ehemalige Opernstimme von Weltformat und heute viel gefragte Regisseurin ist sie eine der großartigsten Instanzen des internationalen Musiktheaters. Hier fügt sie mit sicherer Hand, untrüglichem Geschmack und Gespür und stets besonders musikbezogen auch die vertracktesten Szenen so zusammen, dass sie am Schluss noch logisch erscheinen. Auch wenn in manchen Verkleidungsszenen oder Bühnenaktionen manchmal der Gaul mit ihr durchgeht und sie zur Keule des Klaumauk greift – das ist hier kein Problem, denn die Klugheit einer Regiearbeit darf nicht den Spaß an der Freud‘ verderben. Dies gilt für die längst zu einer Art Familie gewordenen Akteure ebenso wie für das Publikum, das dabei viel zu lachen hat und sich immer wieder in Szenenapplaus Luft macht.

Political Correctness

Was die Handlung betrifft, so ließ die gewiefte Großmeisterin im Rossini-Genre alles außen vor, was nach märchenhafter arabischer Welt mit Harem und Sklaven, Eunuchen und Turbanen aus dem Fundus Anstoß an heutiger Political Correctness erregen hätte können und verlegte das Geschehen kurzerhand auf eine Luxusjacht – das permanent von Paparazzis verfolgte Glamourpaar Onassis und Callas stand da Pate und damit nicht die schlechtesten Vorbilder.  Ausstatter Dietrich von Grebmer schuf dazu in der Szene mit vielen Schiffsutensilien und Kostümen das originell zeitlose Interieur. Und das geht alles auf, rückt die Handlung näher an die Realität und entschärft auch das zweifelhafte Frauenbild des Librettos auf kluge Weise.
Eigentlich war dieser Erfolg keine Überraschung mehr nach dem, was wir bereits 2018 hier mit dem von Grande Dame Fassbaender inszenierten „Barbier von Sevilla“ erleben durften, dem eigentlichen und um einiges tiefgründigeren Meisterwerk Rossinis in dieser Sparte als die früher entstandene, oberflächlichere „Italienerin“. Diese ist auch noch nicht in allem so brillant gestrickt, aber die Oper lebt von den gleichen Buffo-Mustern, von der besonders populären Ouvertüre mit ihrem effektvollen Orchester-Crescendo, die bereits auf die folgenden Turbulenzen einstimmt, bis zu den Koloraturarien der Primadonna, den schmachtenden Belcanto-Arien des Tenors oder den übermütigen Plapper-Finali. Rossini gelang damit eine klug kalkulierte Verbindung aus virtuoser Bravour und musikalischem Effekt.

Köstliche Situationskomik

Hier versucht die schöne Isabella ihren Geliebten Lindoro trickreich aus den Fängen des Herrschers Mustafa zu befreien, der allerdings selbst ein Auge auf die temperamentvolle Italienerin geworfen hat. Zum ersten Höhepunkt wird das brillante Finale des 1. Aktes, ein überaus effektvolles und geschickt arrangiertes Ensemble, das in köstlicher Situationskomik die innere Verwirrung aller Beteiligten deutlich werden lässt. Fassbaender setzt noch eins drauf, indem sie ein quirliges Männer-Sextett von Matrosen auf Besen und Kübeln mitmusizieren lässt. Das war übrigens eine glänzende Idee, anstelle des im Original vorgesehenen üblichen gemischten Opernchores diese viel schlagkräftigere Truppe actionsreicher Jungs unter Anleitung der Choreografin Rosita Steinhauser einzusetzen, die als Lakaien des verwöhnten Beys Mustafa, fähnchenschwingend, im Buchstabenspiel oder als Chor der „Papatachi“ viel Tempo, Humor und kleine Anspielungen ins Geschehen einbringen und auch musikalisch gepflegt agieren.
Der Erfolg dieses Werkes steht und fällt freilich mit der Besetzung der Titelpartie der Isabella, und da hat man mit der umwerfend attraktiven russischen Mezzosopranistin Maria Barakova einen Glücksgriff getan. Sie hat sich zwei Jahre darauf vorbereitet, ist Vollweib und Diva in einem, die sofort die Männerwelt für sich einnimmt, sobald sie auf der Bühne erscheint. Mit ihren beiden Paradestücken, der Auftrittskavatine „Cruda sorte“ und dem Rondo „Pensa alla Patria!“, liefert sie in dieser Traumrolle für kehlkopfgewandte schönstimmige Altistinnen untadelig auch den musikalischen Wahrheitsbeweis. Die übrige, sorgfältig gecastete Besetzung, die fortan Isabella als zentrale Figur umkreist, wird in diesem gedachten Gesangswettbewerb auch an ihrer Koloraturfertigkeit und stimmlichen Präsenz gemessen.

Schmachtende Liebesschwüre

Da ist einmal Mustafa, der Bey von Algier, hier mehr Playboy als orientalischer Herrscher, dem der Italiener Alberto Comes seinen prachtvollen Bassbariton verleiht, in seinen Aktionen aber etwas verhalten bleibt. Sein Rivale um die Gunst Isabellas, der kanadische Tenor Spencer Britten als Lindoro, dringt mit seinen schmachtenden Liebesschwüren mit etwas wenig Substanz fast in Bereiche eines Counters vor, ohne als solcher ausgewiesen zu sein. Die Damenwelt schmachtet gerne mit. Sarah Yang, Sopranistin mit koreanischen Wurzeln, ist als Mustafas überspannte Gattin Elvira, die dieser loswerden möchte, in den Ensembles für die effektvollen Spitzentöne zuständig.
Ekaterina Chayka-Rubinstein aus Kiew ist die einzige Darstellerin, die in der vom Vorjahr übernommenen Besetzung neu ist, überrascht als Zofe Zulma mit angenehm warmen Mezzofarben. Spielerisch top, gesanglich präsent und in der Maske als Johnny-Depp-Verschnitt beeindruckend der polnische Bass Hubert Kowalczyk in der Rolle des Hauptmanns Haly. Der italienische Bariton Pierpaolo Martella schließlich lässt sich in der Buffo-Partie als Isabellas Begleiter Taddeo in zahllosen Verkleidungen und Späßen gerne zum Affen machen.
Dem italienischen Maestro Jonathan Brandani, der als Meister des Belcanto gilt, streute Fassbaender schon vorab Rosen: „Ich bin glücklich, mit ihm einen Dirigenten zu haben, der kein Purist ist und diese Musik in fast improvisatorischer Weise zu neuem Leben erwecken möchte. Das habe ich selten erlebt.“ Das oft wie verwandelt, sprühend farbenfroh klingende Symphonieorchester Vorarlberg im Graben spielt bei dieser gewagten Unternehmung risikofreudig mit, nie zu laut, behende, schlank und von großer Flexibilität.
So wird Rossinis unverwüstlicher Klassiker zur tollsten Einstimmung auf einen großen Festspielsommer, die man sich erwarten konnte.

Bregenzer Festspiele: „Die Italienerin in Algier“ von Gioachino Rossini
weitere Vorstellungen: So, 10.7 und Di 12.7. jeweils 19.30
Theater am Kornmarkt, Bregenz