Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Fritz Jurmann · 21. Jul 2011 · Musik

Mut der Bregenzer Festspiele wurde belohnt - Mit „André Chénier“ auf der Seebühne wird eine Wiederentdeckung zum großen Opernabend

Erst knapp vor Beginn der Vorstellung hörte der stundenlange Dauerregen auf. Nur mit dieser Riesenportion Wetterglück konnte am Mittwoch an einem kalten, aber regenfreien Abend die mit großer Spannung erwartete Premiere von Umberto Giordanos Revolutionsoper „André Chénier“ über die Bregenzer Seebühne gehen. Es war das Glück des Tüchtigen, denn mit dieser Produktion haben die Bregenzer Festspiele mit ihrem innovativ denkenden Intendanten David Pountney einen großen Wurf gelandet. Sein Mut zum „kalkulierten finanziellen Risiko“, abseits des internationalen Opern-Mainstreams ein dem breiten Publikum unbekanntes Stück als Wiederentdeckung für diesen Massenevent am See auszuwählen, wird sich letztlich bezahlt machen, auch der Oper selbst zu neuem Auftrieb verhelfen.

Und straft auch die Unkenrufe jener Pessimisten Lügen, die im Vorfeld die Seebühnen-Tauglichkeit dieser angeblichen Kammeroper angezweifelt hatten: Die Revolution würde dort mehr in den Köpfen als auf der Bühne stattfinden. In der berühmten Bregenzer Dramaturgie kommt diese tragische Liebesgeschichte im Umfeld der Französischen Revolution genau ins rechte Lot zwischen knallharter Action und verträumter Lyrik. Das ergibt in Summe zwei ungemein spannende, mit tollen Bühneneffekten versehene und dennoch überzeugend logisch inszenierte Opernstunden am See, ein spektakulärer Open-Air-Event, getragen von der leidenschaftlichen Musik des Verismo und einem hinreißend besetzten Ensemble.

Wie in Filmsequenzen

Die Handlung der 1896 uraufgeführten Oper ist wie ein Film in oft kurze Sequenzen gegliedert, lässt sich trotz der italienischen Sprache dank der neuen Übersetzungshilfen auch auf Distanz gut verfolgen. Mit dem Librettisten Luigi Illica war hier ein Könner am Werk, der später auch Puccini die Vorlage für seine „Tosca“ geliefert hat. Im Zentrum dieser Dreiecksgeschichte steht der vom Adel gefeierte Dichter Andrea (wie er eigentlich heißt) Chénier, der zunächst zum glühenden Anhänger der Französischen Revolution mit ihren neuen Ideen und Idealen, später zum Gejagten wird: Die Revolution frisst ihre Kinder. Die Adelstochter Maddalena als seine Geliebte folgt ihm bedingungslos in den Tod auf dem Schafott, nachdem deren ehemaliger Diener Gérard, der Maddalena ebenfalls für sich zu erobern versucht, als neue Leitfigur der Revolution die beiden noch vergeblich zu retten versucht hat. „Unser Tod ist der Triumph der Liebe“, singen Andrea und Maddalena in ihrem wunderbar sinnlich auftrumpfenden Schlussduett.
Dass die historisch verbürgte Figur des Chénier ihre optische Entsprechung in der riesigen Seebühnenskulptur mit der Nachbildung des in seiner Badewanne ermordeten Revolutionsführers Jean-Paul Marat nach dem berühmten Gemälde von Jacques-Louis David findet, ist eine unglaublich stimmige Metapher vergleichbar wohl nur mit dem alles überwachenden „Tosca“-Auge – als Symbol der Revolution ein Kopf, als überdimensionale Badewanne der Bodensee. Eine geniale Idee des britischen Bühnenbildners David Fielding. Kopf und Körper des Marat erweisen sich im Laufe des Abends samt Buch, Spiegel und Brief auch als sehr wandlungsfähiges Grundgerüst, aus dem sich neben vielen Treppen auch immer wieder neue Spielflächen für Sänger, Choristen, Statisten, die Stuntmen einer amerikanischen Crew und die waghalsigen Tänzer auf dem Kopf der Skulptur ergeben. Ein bisschen erinnert das Ganze aus der Ferne freilich auch an einen Eindruck aus Kindertagen, als in „Gullivers Reisen“ der mächtige Riese gefesselt von den kleinen Menschlein am Boden liegt.

Ein Regisseur als See-Debütant

Der britische Regisseur Keith Warner, so wie Bühnenbildner Fielding ein See-Debütant, beherrscht die enormen Dimensionen auf Anhieb. Seine Regie geht virtuos und mit sprudelnden Einfällen mit den gebotenen Möglichkeiten um, aber nie als Selbstzweck, wie es etwa die unsäglichen knallgelben „Aida“-Kräne im Vorjahr waren, sondern bloß als Hilfsmittel zum tieferen Verständnis der äußeren und inneren Handlungszusammenhänge für ein längst auf Oberflächlichkeit gedrilltes Massenpublikum. Dazu gehören auch die scharfe Charakterisierung der Protagonisten und die deutliche Abgrenzung der Fronten zwischen Adel und Bürgertum. Das ergibt stets neue, traumhafte Bilder von starker Eindrücklichkeit, bei denen auch nicht vor drastischen Mitteln zurückgeschreckt wird wie grausamen Zweikämpfen oder den beiden Gehenkten im Spiegel – schließlich zieht sich der personifizierte Sensenmann als eine Art mahnender Deus ex machina durch den ganzen Abend. Das durch die späteren Revolutionäre gestörte Fest des Adels in seinen üppigen  Barockkostümen (Constance Hoffman), das Tribunal im Innern des aufgeklappten Marat-Kopfes auf zahllosen Büchern, die berührende Szene, als Maddalena anstelle einer jungen Mutter mit ihrem Geliebten in den Tod geht – alles entsteht wie von Zauberhand und in wunderbar ausgeklügelten Lichtstimmungen (Davy Cunningham).
Neben dem Auge und dem Herzen wird auch das Ohr auf das Freundlichste bedient. Im Wohlfühl-Sound der kräftig aufgedrehten Dolby-Surround-Anlage (Wolfgang Fritz) vergisst man jedes Kältegefühl, kommen Chorklänge und Effekte plötzlich von allen Seiten, entsteht der Orchesterklang auf Breitwand und in diffiziler Durchhörbarkeit als opulente Entsprechung zum gigantischen Bühnenbild. Überraschend die Fülle üppig schwelgerischer, kraftvoller Musik des in Puccini-Nähe angesiedelten Verismo, die Giordano in seiner Oper bereit hält. Es ist ein wahres Füllhorn an musikalisch illustrativen Einfällen, wunderbar melodiösen Arien und Duetten, die den Sängern alle Möglichkeiten des italienischen Belcanto zur glanzvollen Entfaltung geben.

Konditionsstarke Premierenbesetzung

Die Premierenbesetzung, die unter diesen Umständen nicht nur kälteresistent, sondern allein angesichts der viele Treppen auch konditionsstark sein muss, nutzt diese Chancen weidlich. Große Namen sucht man bei so sportiven Einsätzen zwar vergeblich, dafür wird Bregenz immer wieder zum Sprungbrett für angehende Talente, wenn man allein daran erinnert, wie ein damals unbekannter Tenor namens Rolando Villazón 2002 in „La Bohème“ am See den Rodolfo spielte und schon kurze Zeit später als Weltstar an der Seite von Anna Netrebko agierte. Diesmal könnte dieser Durchbruch dem mexikanischen Tenor Héctor Sandoval in der Titelrolle gelingen, der mit enormer Strahlkraft und reicher Farbpalette alles Wünschenswerte aus seinem Fach einbringt (Arie „Come un bel di di maggio“, der „Hit“ dieses Werkes). Als Maddalena agiert die italienische Sopranistin Norma Fantini auf gleicher Höhe, absolut stilsicher und glaubhaft in ihrem Schmerz (Arie „La mamma morta“). Die Rolle des Bösewichtes Gérard ist bei dem in Bregenz längst geschätzten amerikanischen Bariton Scott Hendricks in besten Händen: spielerisch bedrohlich, stimmlich überlegen (Arie „Nemico della patria“).  
Die Wiener Symphoniker erweisen sich unter Anleitung des erfahrenen „Seehasen“ Ulf Schirmer in glänzender Spiellaune, loten voll Schmelz und Italianità die Köstlichkeiten dieser Musik aus. Und zeigen auch Durchhaltevermögen: Sie musizieren in dieser durchkomponierten Oper volle zwei Stunden lang ohne jede Pause. Der Philharmonische Chor Prag, Leitung Lukás Vasilek, und der verlässliche, von dem omnipräsenten Benjamin Lack einstudierte Bregenzer Festspielchor, in letzter Zeit wieder zu ungeahnten Höhenflügen aufgestiegen, sorgen immer wieder für packende Momente.  
Eine voll besetzte Tribüne samt Ehrengästen zeigt sich am Ende begeistert von diesem großen Opernabend und spendet reichlich Applaus. Unser Tipp: Hingehen, anschauen! Karten gibt es diesmal noch genügend. Eine Aufzeichnung der Premiere von „André Chenier“ wird am Freitag, 22. Juli, um 21.20 Uhr in ORF 2 gesendet.