Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Fritz Jurmann · 22. Jul 2011 · Musik

Hausoper bei den Bregenzer Festspielen erstmals als Uraufführung - „Fräulein Glück“ in der Achterbahn des Lebens

Ein neues Kapitel im Buch der Hausoper bei den Bregenzer Festspielen wurde am Donnerstag aufgeschlagen. Erstmals in der Geschichte des Festivals wurde dabei kein bekanntes Stück oder eine Opernrarität geboten, sondern ein komplett neues Werk, die Uraufführung einer Auftragskomposition der Festspiele in Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden in London an die schottische Komponisten Judith Weir (56). Ihre Oper „Achterbahn“ hat zumindest das Premierenpublikum im voll besetzten Haus begeistert, wobei eigenartigerweise die Breakdance-Gruppe den meisten Applaus erhielt. Aus fachlicher Sicht dagegen gibt es vor allem bezüglich der Musik einiges zu hinterfragen.

Ein simpel gestrickter Plot

Sicher, es war viel Schönes dabei, was da geboten wurde: ein schönes, ins Heute übertragenes und gestylt inszeniertes Märchen aus Sizilien, schöne Musik, schön gesungen und gespielt. Und dennoch ließ einen der fast zweistündige Abend, mit Ausnahme des Finales, seltsam unbeteiligt. Und es ist einmal grundsätzlich die Frage zu stellen, ob ein so simpel gestrickter Plot, wie ihn uns Weir da nach eigenem Libretto erzählt, als Sujet für eine Oper im großen Festspielhaus genügend trägt: Die Geschichte von Tina, dem Mädchen aus reichem Haus, dessen Eltern bei einem Bankencrash (wie aktuell!) plötzlich verarmen und das daraufhin sein Leben selber in die Hand nimmt, penetrant verfolgt von „Fate“, dem personifizierten Schicksal, und dessen zerstörerischer Gang aus Breakdancern, die ihr das Leben eben zur Achterbahn machen.
Bloß diese Kluft zwischen Arm und Reich zu thematisieren, samt erhobenem Lebenshilfe-Zeigefinger, bei Schicksalsschlägen nie den Mut und die Hoffnung zu verlieren, ist doch etwas billig. Zudem ist bei „Miss Fortune“, also „Fräulein Glück“, wie das Stück im englischen Original heißt, vieles vorhersehbar, werden auch so platte Klischees bedient wie jenes, dass das Mädchen am Schluss auf einen Millionen-Lottogewinn verzichtet (wie großherzig!) und anstelle dessen lieber den eleganten Prinzen im Anzug nimmt.

Musik, die nicht aufregt, aber auch nicht anregt

Bis es so weit ist, zieht sich die Story trotz des hohen Tempos im Handlungsablauf ziemlich zäh dahin, speziell im ersten Teil. Das liegt vor allem an der Musik, die sich  zerbrechlich und unterkühlt in atmosphärischen Klangflächen und Linien ohne echte  Höhepunkte und Strukturen ergeht, die Charaktere der Protagonisten zu wenig schärft und für sie auch kaum attraktive Melodielinien bereit hält. Die auch weder besonders originell noch wirklich eigenständig wirkt, da sich immer wieder ein gewisses „Déjà-vu“-Gefühl einschleicht. Judith Weir, deren Wurzeln in der Minimal Music und im schottischen Dudelsack liegen, schreibt retrospektiv, auf eine eigene Art modern, ohne beim breiten Publikum anzuecken, und das ist wohl auch ihr Erfolgsgeheimnis, mit dem sie längst international auch berühmte Orchester und Solisten wie Jessye Norman überzeugen konnte. Auf den Punkt gebracht: Musik, die nicht aufregt, aber auch nicht anregt – ein Phänomen unserer Zeit. „Normale Musik für normale Leute“ hat Intendant David Pountey ihre Schreibweise genannt. Was immer man darunter verstehen mag – zu bewundern ist nach „André Chénier“ am See jedenfalls erneut der Mut des Bregenzer Festspielchefs zu Programmen, die aus der Norm fallen.
Die emotionale Spannungsarmut von Weirs Musik kontrastiert die Regie des Chinesen Chen Shi-Zheng in spielerischer Leichtigkeit und Konzentration auf das Wesentliche, die sich gegen Ende deutlich verdichtet. Dabei ist nicht ganz klar, ob die originellen Einfälle typisch weiblicher Aktivitäten wie eines Nähmaschinen-Balletts oder eines Waschsalons mit seinen vielen glotzenden und sich drehenden „Augen“ nun dem unterkühlten britischen Humor der Komponistin oder dem Einfallsreichtum des Regisseurs oder seines Bühnenbildners Tom Pye entsprungen sind. Amüsant sind sie jedenfalls, ebenso wie die vom Schnürboden herabgelassene Kebab-Bude. Mehr als zwei Versatzstücke gibt es ansonsten nicht, ein aus dem Neonlicht-Zeitalter überkommener, bunt leuchtender Gitterrost und eine Art Metallflügel, der Geschehnisse und Gefühle durch Projektionen unaufdringlich unterstreicht und von einer ausgefeilten Lichtregie (Scott Zielinski) unterstützt wird.

Auf der Bühne auch ein „Wetten, dass …“-Sieger

Die Besetzung ist erstklassig, zuvorderst das Orchester der Wiener Symphoniker, das sich unter dem Briten Paul Daniel (unvergessen sein Dirigat der Hausoper 2007, „Tod in Venedig“) in der variablen Sängerbegleitung wie in den farbig aufleuchtenden Intermezzi wie ein Spezialistenensemble für Neue Musik anlässt, mit hoher Bereitschaft, diese Musik in ihrer subtilen Schönheit zum Leben zu erwecken. Auf dieser wunderbar ausgewogenen und ausgehörten Basis kann sich auch der prächtig besetzte, von Lukás Vasilek geleitete Prager Philharmonische Chor, für den Weir dankbare Aufgaben bereit hält, zu voller Größe und Schönheit entwickeln. Willkommenen Drive ins Geschehen bringt mit akrobatischem Flair und fantastischer Körperbeherrschung die sechsköpfige, absolut professionell agierende „Schicksals-Gang“ von Breakedancern aus Dornbirn, denen auch der letzte „Wetten, dass …“-Publikumssieger Nico Koch angehört.                               
Den Solisten hat es die Komponistin nicht eben leicht gemacht, dennoch werden die heiklen und anspruchsvollen Partien von dem durchwegs englischen Ensemble auf erfreulich hohem Niveau mit großer Spielfreude und viel Engagement bewältigt. Tina profiliert sich im Lebenskampf gegen das Schicksal glaubhaft, erhält durch Emma Bells sicheren Sopran auch die leichte, mädchenhafte Ausstrahlung. Die tolle Idee der Komponistin, Tinas Gegenspieler Fate, das Schicksal, mit dem bekannten britischen Altisten Andrew Watts und damit gewissermaßen überirdisch zu besetzen, geht auf, wenn er auch mit seiner zarten Stimme im Duett und gegen das Orchester  manchmal ins Hintertreffen gerät. Der schwarze Noah Stewart gibt einen quicken Kebab-Verkäufer, Anne-Marie Owens eine resolute Wäscherei-Besitzerin, Alan Ewing und Kathryn Harries das versnobte Elternpaar, Jacques Imbrailo den stets sonnigen Simon.

Warum kein Opernauftrag an einen Vorarlberger?

Eigentlich hätte man sich ja in Vorarlberg erwarten dürfen, dass der Auftrag für zumindest eine der drei neuen Opern im Festspielhaus an einen heimischen Komponisten geht. Sowohl der in Vorarlberg aufgewachsene Georg Friedrich Haas (bei den Festspielen bereits mit „Nacht“ und „Die schöne Wunde“ präsent gewesen) als auch Richard Dünser mit seinem Festspiel-„Radek“, ebenso der Montafoner Herbert Willi mit seiner in Zürich uraufgeführten und in Innsbruck nachproduzierten Oper „Schlafes Bruder“ nach dem Erfolgsroman von Robert Schneider haben bewiesen, dass sie das Zeug dafür haben.
Die Verankerung der Festspiele in der heimischen Szene, von Alfred Wopmann noch konsequent betrieben, lässt bei der Hausoper ebenso wie auch im KAZ-Bereich in Pountneys Akzeptanz zusehends zu wünschen übrig. Das hat nichts mit  Lokalpatriotismus um jeden Preis zu tun, nur mit einer leider versäumten Chance – nicht nur für die heimischen Komponisten, sondern auch für die Bregenzer Festspiele. Denn von allen dreien hätte man sich eine weitaus aktuellere, packendere Musik erwarten können, freilich auch eine manchmal sperrige und weniger publikumsfreundliche, als sie jetzt Judith Weir geliefert hat.