Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 08. Okt 2022 · Musik

Musiktheater Vorarlberg trumpft auf: Zum Jubiläum eine „Zauberflöte“ wie aus dem Bilderbuch

Sie haben hoch gepokert – und gewonnen, die wagemutigen Macher des Musiktheaters Vorarlberg mit Präsidentin Margit Hinterholzer und Intendant Nikolaus Netzer an der Spitze. Denn sich selbst und das Publikum zum eigenen 75-jährigen Jubiläum mit Mozarts „Zauberflöte“ zu beschenken, kommt für eine aus Profis und Amateuren zusammengesetzte Regionalbühne mit schmalem Budget und geringen bühnentechnischen und szenischen Möglichkeiten einem Kraftakt mit hohem Risiko gleich. Auf der anderen Seite stehen dafür unzähmbare Leidenschaft fürs Theater und eine Spielfreude der längst zu einer Familie zusammengewachsenen 120-köpfigen Gemeinschaft mit 16 Solopartien zu Buche, die auch den letzten Besucher aus der Reserve locken und die drei Stunden dauernde Aufführung ohne Ermüdungserscheinungen verfolgen lässt.

Bei dieser „Zauberflöte“ wie aus dem Bilderbuch kommt der Opernfreund in einer hochrangigen musikalischen Umsetzung unter dem Dirigat von Nikolaus Netzer ebenso auf seine Kosten wie jener Besucher, dem die turbulente szenische Umsetzung mit vielen Einfällen der deutschen Regisseurin Maria Kwaschik großen Spaß bereitet hat. Nach viel Szenenapplaus kommt es am Schluss zu minutenlangen Ovationen des begeisterten Publikums für Solisten, Chor, Orchester und das Leading Team. Alles in allem gerät dieser restlos ausverkaufte Premierenabend am Freitag in der Kulturbühne Ambach zu einem Ereignis von besonderem Zuschnitt in der Geschichte des mtvo und zu einem kulturellen Event mit Strahlkraft über unsere Region hinaus. 
Denn Mozarts „Zauberflöte“ – das ist nicht irgendeine beliebige Oper oder ein Singspiel, egal, aus dem Repertoire der großen Häuser, wo es als eines der bekanntesten und meist gespielten Werke gilt. Es lohnt sich deshalb zunächst auch ein Blick auf die jüngere Rezeptionsgeschichte dieses Werkes in Vorarlberg, denn jede der drei Produktionen der letzten rund vier Jahrzehnte hatte jeweils seinen besonderen Stellenwert.  

Rezeptionsgeschichte in Vorarlberg

Die Seeproduktion der „Zauberflöte“ 1985 markierte etwa mit dem Amtsantritt des neuen Intendanten Alfred Wopmann den Beginn einer neuen Ära der Bregenzer Festspiele, die er mit seiner „Bregenzer Dramaturgie“ nachhaltig geprägt und ihnen zu internationalem Renommee verholfen hat. Die Devise lautete „große Kunst in spektakulärer Verpackung“. Dafür war damals der inzwischen verstorbene Jérome Savary als Regisseur der richtige Mann, der die „Königin der Nacht“ in einem sternfunkelnden Berg erscheinen und die drei Knaben in einer Seilbahn über den Köpfen der Zuschauer pendeln ließ.
Knappe 30 Jahre später hat es der damalige Intendant David Pountney als Regisseur der „Zauberflöte“-Produktion 2013 am See allerdings zum Klamauk übertrieben. Seine Inszenierung glich stellenweise einem Kasperltheater mit Drachenköpfen, Stuntmen und viel Geschrei, in dem Mozart oft erbarmungslos baden ging. Bald macht sich in Bregenz das Gerücht breit, diese überzogene Form sei ein subtiler Racheakt Pountneys für seinen nicht ganz freiwilligen Abgang als Intendant aus Bregenz gewesen. Zwischen diesen beiden spektakulären Polen steht 2011 eine vergleichsweise solide, aber musikalisch und szenisch ansprechende Inszenierung der „Zauberflöte“ in der Reihe der jährlichen Co-Produktionen des Landestheaters mit dem Symphonieorchester Vorarlberg.

Götzis geht eigene Wege

Ganz eigene Wege ging heuer in Götzis die Regisseurin Maria Kwaschik, die man von ihrer mit leichter Hand gestrafften Musical-Inszenierung von „My Fair Lady“ vom Vorjahr noch in bester Erinnerung hat. Sie machte aus der Not eine Tugend, nahm die Beengtheit der Bühne und der Bühnentechnik zum Anlass für eine Deutung, die in entlarvender Naivität und Offenheit schnurstracks auf die Grundlagen dieser Oper zurückführt: Menschlichkeit, Liebe, Verständigung behalten letztlich die Oberhand über die bösen Mächte, die Übles planen und in den Untergang führen wollen. Ist das nicht ein haargenaues Spiegelbild dessen, was sich derzeit von Putins Russland ausgehend in unserer Welt abspielt?
Ganz so einfach ist das auf der Bühne freilich nicht zu lösen, aber die Regie zieht auch für den Unkundigen klare Linien zwischen Gut und Böse, auch mit Hilfe zauberischer Utensilien wie einer Flöte und eines Glockenspiels. Nur die wilden Ungeheuer vermisst man hier in der Abteilung Märchen, aber das wären in dieser durchgestylten Aufführung vermutlich auch eher lächerliche Pappmaché-Figuren geworden. Auch die Fülle populärer Arien, Duette und Chöre, die Meister Mozart damals, in seinem Todesjahr 1791, mit leichter Hand nur so aus dem Ärmel geschüttelt hat, gibt dazu klare Anleitungen und die Richtung vor.
Maria Kwaschik tut ein Übriges und greift mit Filmzuspielungen zu einem technischen Mittel, das den Horizont der Besucher schlagartig erweitert und zudem mit einer kleinen Rahmenhandlung auch das laufende Bühnengeschehen, die Gemütslage und den Seelenzustand der Protagonisten kommentiert und erhellt. Ein Apfel wird dabei zu einer Art Symbol des Lebens, den der Vater einer kleinen Familie, dargestellt von dem in Götzis lebenden Komponisten Gerald Futscher als Paminas Vater und Nora Alvarez-Sanchez als junge Pamina, pflückt und dabei verunglückt. Die Aufnahmen entstanden rund um das Wasserhaus in St. Arbogast und am Bodensee und verraten mit vielen Gesichtern in Großaufnahme enorme Kenntnis von Bildwirkungen und psychologisches Feingefühl vor allem von Videomeister Julien Munschy.

Sternstunde für Orchester und Dirigenten

Im musikalischen Bereich soll diesmal das Orchester des mtvo zuvorderst genannt werden, denn es hat in diesem Jahr im Vergleich zu den letzten Produktionen eine absolute Spitzenposition erreicht. So klangschön und sauber, so differenziert und präzise hat man den diesmal besonders opulent besetzten Klangkörper mit ausgesuchten Musikern der Region bisher noch nie erlebt. Letztlich ist das natürlich alles das große Verdienst von Nikolaus Netzer, der es sich als Intendant heuer nicht nehmen ließ, seine langjährige Profierfahrung mit Leuten wie Harnoncourt, Kuhn und Fassbaender ins Geschehen einzubringen. Allein an der Wahl seiner Tempi in den einzelnen Arien, an der Abstimmung der Lautstärke zur Bühne, die zwar satt und manchmal auch knallig zur Wirkung kommt, aber nie so laut, dass die Sänger um ihr Leben fürchten müssen, erkennt man die Meisterhand Netzers. Man würde ihm, der heuer so ganz nebenbei auch das 15-jährige Jubiläum als Intendant begeht, durchaus weitere ähnliche dirigentische Aufgaben im Land zutrauen. Das Orchester selbst aber legt bereits mit der superheiklen Ouvertüre mit den schweren Freimaurer-Akkorden am Beginn und dem turbulenten weiteren Geschehen seinen überzeugenden Offenbarungseid ab.    
Die eigentliche Bühne von Isabelle Kaiser, wenn die Leinwand immer wieder mal hochgeht, ist eine Art variabler Guckkasten mit transparenten Wänden und einer Spielfläche, die zum Orchester hin abfällt und in den Graben hineinragt. Zusätzliche Auftrittsmöglichkeiten bietet ein schmaler Streifen auf der Vorbühne, bei dem die Akteure quasi dem Publikum in der ersten Reihe fast auf den Schoß sitzen könnten und man andererseits auch ganz nah dran ist an diesem auch menschlich so packenden Geschehen.

Heimische und internationale Besetzung

Das kommt vor allem dem Darsteller des Papageno zugute, der immer gut aufgelegten und wohl populärsten Figur in diesem Stück: „Der Vogelfänger bin ich ja“. Er ist ein einfacher Mann des Volkes, mit dem sich viele im Publikum identifizieren können. Der deutsche Bariton Daniel Raschinsky ist für diese Rolle wie geschaffen, verfügt über eine sagenhafte Bühnenpräsenz, kräftige Stimme und ebensolchen Humor. Mit ihm zusammen dominiert der koreanische Tenor Byoung–Nam Stefano Hwang als Prinz Tamino zunächst das Bühnengeschehen, als Tenor mit der „Bildnisarie“ eine glänzende Erscheinung, in den Aktionen durch seinen Kampf mit der deutschen Sprache manchmal etwas gehandicapt. Und da sind auch die am Schluss besonders bejubelten Drei Damen, Martina Kadoff, Mirjam Evelyne Fässler und Mathilde Matzeit, die als „Dreigesang“ von untadeligem Wohlklang im Auftrag der „Königin der Nacht“ für Ordnung sorgen und Papageno einen Beißkorb anlegen.
Einen ersten Höhepunkt ergibt dann der Auftritt der „Königin der Nacht“, die die deutsche Sopranistin Teresa Boning als Grande Dame des Ensembles mit viel Würde verkörpert. Ihre beiden Arien sind gefürchtete Stolperfallen für jeden Koloratursopran. Sie bewältigt die erste, „O zittre nicht“, respektvoll, die zweite, schwierigere, „Der Hölle Rache“ mit Bravour. Ihre Tochter Pamina erhält durch die heimische, international tätige Veronika Vetter einen sympathischen Anstrich und entspricht auch gesanglich mit ihrem warmen lyrischen Sopran mit schöner Höhe, etwa im Duett „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ mit Papageno. Der gute Gegenspieler der bösen „Königin der Nacht“ ist Sarastro, dem der koreanische Bass Martin Ohu ein würdiges Format und das nötige Tiefenregister etwa in der Arie „In diesen heil’gen Hallen“ verleiht. In seinem Personal findet sich der Bregenzer Tenor Lukas Diblik als Mohr Monostatos, der angesichts aktueller Diskussionen auch ganz ohne schwarze Schuhcreme im Gesicht auskommt und seine Rolle überaus glaubhaft und gesanglich brillant verkörpert.
Ebenfalls aus Bregenz stammt der als „Sprecher“ eingesetzt Bass Johannes Schwendinger, als Priester und Geharnischte haben der Rankweiler Clemens Johannes Breuss und der aus Nüziders stammende Christoph Hartmann gesanglich und spieltechnisch wichtige Weichenstellungen zu bewältigen.  Die Drei Knaben werden bei dieser Produktion intern scherzhaft „Knäbinnen“ genannt, da es tatsächlich Mädchen sind, mit sechs an der Zahl doppelt besetzt und alle toll ausgebildet in der tonart-Musikschule. Sie machen ihre Sache als Spielmacher ohne Nervenflattern sauber und herzerwärmend. Und ganz zum Schluss taucht mit der reizenden Tirolerin Jana Stadlmayr als Papagena noch jenes „Mädchen oder Weibchen“ auf, das sich Papageno so sehnlichst gewünscht hat. Das Duett der beiden ist in seiner Naivität und hübschen Choreografie einfach mitreißend. Der Chor des Musiktheaters, relativ klein besetzt, dafür körperlich und stimmlich von großer Wendigkeit, offenbart seine Qualitäten in vielen fantasievollen Verkleidungen (Franziska Müller), perfekt einstudiert von Darina Naneva.

W.A. Mozart: „Die Zauberflöte“
Produktion des Musiktheaters Vorarlberg in der Kulturbühne Ambach, Götzis
Weitere Vorstellungen: So 9., Di 11., Do 13., Sa 15. Oktober, jeweils 19 Uhr
Di, 18. Oktober, 20 Uhr: Halbszenisches Gastspiel in Lustenau, Reichshofsaal