Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Peter Füssl · 24. Okt 2021 · Musik

Klangmalen mit der ganz großen Palette – Christian Muthspiel & ORJAZZTRA VIENNA am Spielboden

Der Posaunist Christian Muthspiel zählt seit Jahrzehnten zu den profiliertesten Jazzmusikern Österreichs und initiierte oder war Teil vieler hervorragender Projekte – vom Duo mit seinem Gitarre spielenden Bruder Wolfgang, über das Vienna Art Orchestra, bis zu seiner Yodel Group oder seinem Trio mit Franck Tortiller und Georg Breinschmid. Aber Christian Muthspiel war auch immer schon ein hervorragender Komponist und entwickelte sich seit der Jahrtausendwende zum gefragten Dirigenten, der etwa mit der Camerata Salzburg oder dem Münchner Kammerorchester spezielle Programmreihen im Spannungsfeld von moderner Klassik, Jazz und Pop entwickelte. Als Komponist und Dirigent steht Christian Muthspiel nun auch im Zentrum des von ihm gegründeten ORJAZZTRA VIENNA, das nach einer langen, Corona-bedingten Zwangspause am Dornbirner Spielboden endlich wieder Bühnenluft atmen und die Reaktionen eines „echten“ Live-Publikums genießen durfte. Wobei der Genuss natürlich ein wechselseitiger war!

Der phantasievolle Name ORJAZZTRA ist hervorragend gewählt, denn einmal entspricht er dem subtilen Witz seines Schöpfers, und zum Zweiten wäre die Bezeichnung „Big Band“ viel zu kurz gegriffen. Was nicht heißen soll, dass man nicht auch das Vokabular des klassischen Big Band-Sounds beherrschen würde. Versatzstücke daraus werden gerne – manchmal wie Zitate wirkend – in das unglaublich bunte musikalische Geschehen eingestreut. Das eigentlich Bemerkenswerte am ORJAZZTRA ist aber die ganz eigene kompositorische Handschrift Muthspiels, der mit der ganz großen Palette und 17 exquisiten „Pinseln“ unglaublich subtile Klangmalereien entwirft. Seine Kompositionen sind komplex, eröffnen aber auch allen Beteiligten Freiräume zur kreativen Selbstverwirklichung. 

Kompositorische Feinarbeit

Aber schön der Reihe nach! Denn gleich zum Auftakt des Konzertes gibt es eine große Überraschung: Die Bläser haben sich ganz hinten auf der Tribüne im Rücken des Publikums platziert und drohen es orkanartig hinweg zu blasen, während auf der Bühne vor den Zuhörer:innen nur die Drums zu sehen und zu hören sind. Zu einem röhrenden, ultraschrägen Marsch bewegen sich die Musiker:innen auf die Bühne, wo das musikalische Geschehen in einen lässigen Swing übergeht und die ersten, zum Teil irgendwie wie abstrahierte Dixie-Klänge anmutenden Soli eingestreut werden. Hier wird gleich schon klar, was in den nächsten 90 Minuten faszinieren wird – die klangliche Feinarbeit, das subtil arrangierte Aufeinander-treffen-Lassen von Solisten und musikalischen Background-Aktivitäten, das Kombinieren ausgefallener Soundideen und Musiziertechniken. Da wird – mal abstrakter, mal konkreter – in der Jazz-Geschichte flaniert, manches klingt auch nach zeitgenössischer Kammermusik, aber alles ist mit feinen Pinseln gemalt – rein akustisch, ohne jegliche Elektronik. In reizvollem Kontrast dazu entfesseln einzelne Solist:innen kraftvoll-expressive Solo-Orgien. Das liebevolle Ausarbeiten von Gegensätzlichkeiten, das effektvolle Sich-aneinander-Reiben sind ebenfalls beliebte Ausdrucksmittel.

Lauter Solist:innen

Womit wir bei den einzelnen Musiker:innen wären. Das ORJAZZTRA verblüfft auf mehrfache Weise: So ist die Rhythmusgruppe verdoppelt – mit Judith Schwarz und Marton Juhasz an den Drums, Beate Wiesinger am E- und Judith Ferstl am Kontrabass – was natürlich spezielle rhythmische und klangliche Möglichkeiten eröffnet. Das ORJAZZTRA ist – wie es Christian Muthspiel ausdrückt — „gendermäßig hervorragend besetzt“. Die sieben Frauen auf der Bühne machen eindrücklich klar, dass das „zarte Geschlecht“ längst auch die Jazzbühnen erobert hat und dabei durchaus auch sehr handfest und kraftvoll zur Sache gehen kann. Das ORJAZZTRA ist auch, wenn man so will, ein „demokratisches“ Orchester, denn alle Musiker:innen haben ihr Solo (manche auch mehrere). Die individuell unterschiedlichen instrumentalen Handschriften verleihen dem musikalischen Geschehen natürlich zusätzlich Buntheit und Abwechslungsreichtum. Mit der Aufzählung der Bandmitglieder ist somit gleich auch die Nennung der Solist:innen erledigt – und jede/jeder von ihnen hatte sich den begeisterten Zwischenapplaus des Publikums redlich verdient: An den diversen Klarinetten und Saxophonen brillierten Lisa Hofmaninger, Fabian Rucker, Astrid Wiesinger, Robert Unterköfler, Ilse Riedler und Florian Bauer. Der Trompeten/Flügelhorn-Satz war mit Lorenz Raab, Gerhard Ornig und Dominik Fuss ebenso exzellent besetzt wie der Posaunen-Satz mit Daniel Holzleitner, Alois Eberl und Christina Baumfried. Bleibt noch Philipp Nykrin zu erwähnen, der am Piano unglaublich einfallsreich und wendig agierte und sich mit einigen Musiker:innen extravagante Dialoge lieferte.

Fertige Bänder warten auf Veröffentlichung

Christian Muthspiel und das ORJAZZTRA VIENNA wurden durch die Corona-Pandemie über einen langen Zeitraum hinweg völlig lahmgelegt. So kommt es, dass dieses hervorragende Projekt zwar eine fertige Produktion im Kasten hat, aber immer noch auf Label-Suche ist. Also, Label-Bosse aller Herren und Damen Länder: Falls Ihr ein Faible für das Besondere habt, Wert auf fein Ausgearbeitetes und Nuancen legt, hier gibt es noch ein wahres Kleinod zu entdecken!   

https://www.christianmuthspiel.com/orjazztra-vienna/