Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Silvia Thurner · 27. Feb 2020 · Musik

Gewissheit beerdigen und Wissen durch Kunst wecken – Die Philosophin Alice Lagaay besprach Komplexes und setzte Lichtpunkte

Im Rahmen der Montforter Zwischentöne finden drei Begräbnisse statt, zu Grabe getragen werden die Gewissheit, die Muße und die Privatsphäre. Dazu kreierten die Baukünstlerin Christina Schlüter und die Architekten Helmut Dietrich und Hugo Dworzak einen an der Apsis der Kathedrale in Chartre angelehnten Bühnenraum mit einem nach hinten gezogenem Baugerüst, das an Notre-Dame denken ließ. Die in Hamburg tätige Philosophin Alice Lagaay hielt eine eindrucksvolle, aber auch sehr anspruchsvolle Trauerrede mit manchen Einsichten, die aufhorchen ließen. Zur sakralen Atmosphäre im Alten Hallenbad passte die Musik des Vienna Reed Quintet hervorragend.

Alice Lagaay hielt ihren Nachruf auf die Gewissheit(en) vor einer großen „Trauergemeinschaft“. In drei Teilen und mit der Bemerkung, dass unser Kulturkreis von der Dreiteiligkeit mitbestimmt sei, legte sie ihre Rede an.
Sogleich im „ersten Takt“ fragte sich die Philosophin selbst und die Zuhörenden, wie wir überhaupt wissen können, dass wir Gewissheit haben. Dabei bezog sie sich auf Platon und Sokrates sowie auf den berühmten Satz von René Descartes „Ich denke, also bin ich“, den dieser nach Zweifeln seiner Erkenntnisfähigkeit formuliert hatte. Eine bedeutende Schlussfolgerung zog die Philosophin mit der Bemerkung, dass Gewissheit, die ohne Zweifel präsentiert werde, sehr rasch in Tyrannei ausarte. Meistens gingen und gehen Gewissheiten aus patriarchalen Herrschaftsstrukturen hervor.

Gewissheiten aufbrechen

Spannend und wohltuend lenkte die Philosophin den Blick weiter auf die Erkenntnisse des Dekonstruktivmus in Anlehnung an den französischen Philosophen Jacques Derrida. Gewissheiten, in deren Kernaussagen eine Irritation oder ein „Kitzeln“ stattfinde, bräuchten wir, betonte Alice Lagaay in diesem Zusammenhang. Sie hielt auch ein Plädoyer für die Wertschätzung von Erfahrungen und die vielfältigen Gewissheiten, die jede und jeder Einzelne in sich trägt. Genau dieses Sammelsurium an Wissen und Erfahrungen – „knowing what“ und „knowing how“ – zeichnet eine multikulturelle Gesellschaft aus. Die Kluft zwischen Erfahrungen und Wissen von Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinandertreffen, ergeben Vielfalt, unterstrich die Rednerin und zeigte auf, wie gleichgeschaltet und gleichförmig unsere Gesellschaft ohne diese Klüfte wäre.

Hirn-, Herz- und Bauchwissen

Weiters plädierte die Philosophin für einen ehrlichen Umgang mit Unwissenheit und kam schließlich im dritten Teil ihres Vortrages auf die Kunst, das spontane Handeln und die Intuition zu sprechen. Der Moment des Zweifelns ist wichtig in diesem Spiel, Unterbrechungen und das Ungewisse eröffnen Räume, in denen Neues entstehen und definiert werden kann, zeigte Alice Lagaay auf. Allerdings, betone sie, dass das Vertrauen auf die Intuition erlernt werden müsse. Diese Gewissheit sei eine Haltung und ein Sein im Moment. Ihre Rede beendete die Philosophin mit einem Satz, der zum Weiterdenken anregte. „Wir streben nach einem Modus des Zusammenlebens, den wir noch nicht kennen.“
Die Ausführungen von Alice Lagaay regten das aktive Mitdenken an und erinnerten an – hierzulande kaum stattfindende – universitäre Philosophievorlesungen.

Musikalische Reflexionsflächen

Das Vienna Reed Quintet, mit Heri Choi (Oboe und Englischhorn), Heinz-Peter Linshalm (Klarinette), Alfred Reiter (Saxophon), Petra Stump-Linshalm (Bassklarinette) und Marcelo Padilla (Fagott), fügte sich klanglich und musikalisch hervorragend in den sakralen Raum ein. Die Werkauswahl mit Rameau und Ravel sowie Nina Simones „For All We Know“ boten musikalische Felder, die zur Reflexion einluden. Besondere Aufmerksamkeit lenkte das Werk „Zugvögel“ von Carola Bauckholt auf sich. Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ließen die Musikerinnen und Musiker die musikalischen Linien driften, einzelne Motive fungierten als Auslöser neuer Entwicklungslinien. Mit Mundstücken fabrizierte animalische Laute glichen sich allmählich an und lösten sich in Schwebungen, Liegetönen, Luft- und Klappengeräuschen auf.

Kaleidoskop der Veränderung

Ein Clou des von Christina Schlüter, Helmut Dietrich und Hugo Dworzak gebauten Bühnenraumes bestand darin, dass auf dem dreiteiligen Paravent zuerst die Fensterbilder aus der Kathedrale in Chartre projiziert wurden. Allmählich begannen die Bilder zu driften und veränderten sich in ein feinsinniges Farbenspiel aus Rosetten, Mustern und Mandalas. Das abwechslungsreiche Spiel mit den Formen und Farben ergänzte sich gut mit der Musik, wirkte jedoch während des Vortrags von Alice Laagay eher störend, denn ihre Ausführungen forderten eine ungeteilte Aufmerksamkeit ein.
Zu einem Begräbnis zählen auch eine Lesung sowie Fürbitten. Auch sie wurden bei den Montforter Zwischentönen gegeben. Augustin Jagg las das Märchen „Das irdische Paradies“. Darin konnten die Menschen nicht in Erfahrung bringen, welche Welt sich hinter dem Berg verbindet. Gut band die Philosophin das Märchen in ihre Überlegungen ein. Die ergänzenden Fürbitten, vorgetragen von Augustin Jagg, Monika Bauer und Ian Tarmann, boten eine willkommene Zusammenfassung des vorangegangenen Vortrages.