Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Silvia Thurner · 21. Aug 2022 · Musik

Emotionale Zwiespältigkeit mit voller Kraft ausgelotet – das Symphonieorchester Vorarlberg und Leo McFall lösten bei den Bregenzer Festspielen Jubelstürme aus

Mit einer geistreichen Werkauswahl und mitreißenden Interpretationen beendete das Symphonieorchester Vorarlberg den Reigen der Orchesterkonzerte bei den diesjährigen Bregenzer Festspielen. Leo McFall dirigierte mit großem emotionalem Einsatz. Dieser übertrug sich auf das Orchester, sodass nicht nur eine wuchtige und zugleich tiefsinnige Werkdeutung der fünften Symphonie von Peter I. Tschaikowsky, sondern auch das filigran gezeichnete Tombeau „Chant funèbre" von Igor Strawinsky zu erleben war. Die Violinistin Alina Pogostkina unterstrich mit ihrer feinen Musizierhaltung den lyrischen Charakter des ersten Violinkonzertes von Sergej Prokofjew.

Igor Strawinsky setzte mit dem „Chant funèbre“, op. 5 seinem Lehrer Nikolai Rimsky-Korsakov ein vielschichtiges musikalisches Andenken. Mit viel Bedacht aufeinander formten die Musiker:innen die intensive Chromatik aus, indem die Leit- und Zieltöne klar ausformuliert wirkten und damit die harmonischen Farben facettenreich leuchteten. In die ausgewogene Klangbalance betteten die Musiker:innen die bogenförmigen melodischen Linien ein und entfalteten ein ausdrucksstarkes Klangmonument.
Nach der Darbietung dieses vieldeutigen Werkes nahmen sich die Musiker:innen des Symphonieorchesters Vorarlberg zurück, um der Solistin Alina Pogostkina im ersten Violinkonzert von Sergej Prokofjew möglichst viel Gestaltungsspielraum zu gewähren. Das heterogene Werk beinhaltete wunderbar lyrische melodische Bögen im ersten Satz genauso wie markante Gegensatzpaare und raffinierte Klangvariationen.
Fein ziselierte Alina Pogostkina das Hauptthema im Eröffnungssatz und markant gestaltete sie im Scherzo das fortlaufende Klangband mit Martellato-Effekten aus. Ihr Bogeneinsatz ganz am Steg entwickelte eine obertonreich schillernde, perkussive Kraft, sodass der humorvoll-ironische Charakter der Musik beeindruckend nachvollziehbar war. Im Finale verstärkten die Orchestermusiker:innen die Pole zwischen empfindsamem Ausdruck und rhythmisch-dynamischer Kraft. Doch Alina Pogostkina stellte weniger die Kontraste als vielmehr den poetischen Grundcharakter in den Mittelpunkt ihrer sensiblen Werkdeutung. Als Botschaft für den Frieden spielte die Musikerin das katalanische Volkslied „The song of the birds“ in einer Bearbeitung von Pablo Casals.
Die Kombination der „Chant funébre“, des Violinkonzertes sowie Tschaikowskys fünfter Symphonie förderten musikalisch verbindende Stilelemente zutage, die immer wieder aufhorchen ließen und in dieser Art ganz neue Hörerfahrungen boten.
Die fünfte Symphonie von Peter I. Tschaikowsky fügte sich mit seiner zwiespältigen musikalischen Anlage zwischen Verzweiflung und Euphorie, Rückzug und impulsivem Drängen hervorragend zu den vorangegangenen Kompositionen. 
Im Eröffnungssatz kam unter anderem die Transformation des Hauptthemas von einer melancholischen Linie hin zu einer dramatisch gesteigerten Emphase hervorragend zur Geltung. Das Andante cantabile lebte vom wunderbar entfalteten Hornsolo von Andreas Schuchter sowie den weiteren Solist:innen aus den Reihen des Orchesters, die ihre Parts klanglich sensibel in das musikalische Gewebe einflochten. Nicht alle Übergänge wirkten ganz kongruent, doch als Ganzes erlebt, fanden die Orchestermusiker:innen mit einem gemeinsamen Atem zu einem mitreißenden Zusammenwirken. So brachten Leo McFall und das Symphonieorchester Vorarlberg die Doppelgesichtigkeit der Musik voll zur Geltung und ernteten dafür Beifallsstürme des Publikums.

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