"Rickerl – Musik is höchstens a Hobby" derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: 2010 Entertainment / Giganten Film)
Manuela Schwaerzler · 21. Jän 2021 · Musik

Ein überdrehtes Zeitalter - ein Essay, nicht nur für Freunde der Klaviermusik, von Hans-Udo Kreuels

Als Älterer, der „andere“ Zeiten kennen gelernt hat, wage ich einen Befund als meinen persönlichen Gesamteindruck der letzten zwei Jahrzehnte. Der heutige gesellschaftliche Trend scheint uns zu suggerieren: „Wir können nicht zurück! Wir müssen voran! Wir sind getrieben, der Wachstumsfortschritt ist in Gefahr. Denn ohne Wachstumsfortschritt sind wir zurückgestuft, verletzlich und als Konsumenten anfällig für allseits spürbare geistige Stagnation. Wir fühlen uns von allen Seiten bedroht, von Migration, vom Klima, vom Virus, von Verrohung, von Bevormundung und machtpolitischer Ignoranz. Wir müssen wachsam sein, Bedenken abschütteln und uns hinter kategorischem Mainstream-Denken gut verschanzen. Da unser Selbst bedroht ist, müssen wir unsere Vorteile ohne Skrupel ausbauen. Nur, so glauben wir, können wir die inneren Anfeindungen durch schleichende bis offenkundige Sinnentleerung verdrängen und die schwindende Kraft unseres Egos vor uns selber retten.“

Die Welt scheint immer mehr „auf Krawall gebürstet“. Das Vertrauen in die weltweit führenden Demokratien ist gewichen, gewissermaßen gestrandet. Von ihnen ging im Westen für mindestens drei Jahrzehnte eine globale Hoffnung aus, das Zusammenleben der Menschen weiterzuentwickeln und zu stärken. Doch die Demokratien haben sich immer mehr weggeduckt. Sie haben die Menschenrechtsproklamationen weiter auf ihren Fahnen geführt, aber nichts Entscheidendes bewegt. Sie haben es nicht geschafft, Uneigennützigkeit und globale Verbesserungsstrategien vor die nationalen Interessen zu stellen. Das hat nun jeder Mann, jede Frau auf der Straße verstanden.
Man lässt sich nicht mehr, angesichts der großen Herausforderungen an die Menschheit, mit leeren Worthülsen abspeisen. Die Unter- und Mittelschicht ist in ihrem psychischen Auffangvermögen grundlegend überfordert, genervt und sehnt Veränderungen herbei, wenn auch ad-hoc-Lösungen ohne Weitblick.
Eine gemäßigte Gangart, ein von je her gewohntes Abwarten, ein geduldiges Sich-Einstellen auf politische Entscheidungen oder Verbesserungen der Gesetzeslagen ist abhanden gekommen, und mit einem Mal scheint unser Zeitgefühl für Abläufe in eine neue Dimension eingetreten zu sein. Die Zeit, d. h. unser Zeitgefühl ist geschrumpft, irgendwie ausgezehrt. Das gut gemeinte Schlagwort „Entschleunigung“ erreicht uns vielleicht als therapeutischer Ratschlag, hat aber keine Relevanz mehr für unseren Bewegungsmodus, für unsere „innere Uhr“. Das durch Jahrhunderte den Menschen eigene, wenn auch schwankende Zeitgefühl scheint genetisch mutiert zu sein.

Da ich von der klassischen Musik herkomme, ist es naheliegend, in der klassischen Interpretation ein „intelligentes Abbild“ unserer heutigen Zeit zu entdecken. Schon Grete Wehmeyer, ehemalige Musikprofessorin in Köln, schrieb in ihrem damals umstrittenen Buch „Prestississimo“ vom „Gebot der Raserei“! Das war 1989. Diese Raserei, die bis zum Ende des letzten Jahrhunderts noch hier und da hinterfragt wurde, ist anscheinend kein Diskussionspunkt mehr. Wir haben endgültig die innere Verbindung zur temporären Bewegungsform der klassischen Hochkultur entweder verloren oder aufgegeben.
Man hört öfter das Argument, dass wir ja große klassische Werke für „Ohren von heute“ zu interpretieren haben. Das mag auch rechtens sein. Nur ist dem entgegenzuhalten, dass die musikalische Grundausbildung der meisten jungen SolistInnen nicht historisch fundiert und gewissenhaft genug ist, um das gewachsene, gesamte Spektrum eines Werkes aus älteren Zeiten in unsere heutige Zeit zu transferieren. Ein frommer Wunsch? Vielleicht. Aber wenn wir uns diesem Wunsch nicht verschreiben, werden wir über kurz oder lang den Kontakt zu unserer Tradition verlieren. Spätestens dann hat instrumentales Fertigkeitsdenken über das Dialogprinzip gesiegt, dann sind die musikarchäologische Aufarbeitung und die Rückbesinnung als ganzheitlicher Arbeitsansatz endgültig abhanden gekommen.
Der von mir sehr geschätzte junge Pianist Igor Levit, schon vor „Corona-Zeiten“ zur Galionsfigur moderner klassischer Interpretation gekürt, ist das beste Beispiel für unsere wohl nicht umkehrbare Abgehobenheit, abgesehen davon, dass er als Repräsentant einer emotional und mental starken Pianisten-Generation absolut den „Tiefgang“ sucht! - Aber was bleibt auf der Strecke? Klug über Musik reden, zelebriert langsam und rasant schnell spielen ist kein Beweis eines adäquaten Hineindenkens, eines „Zeit versetzten“, echten Empathie-Verhaltens zur Musik! Besonders die älteren erfahrenen Musikliebhaber, die sich noch eines tradierten Bewegungsgefühls irgendwie sicher waren bzw. sind, lässt man im Regen stehen. Musik spricht weniger zu uns und nicht mehr mit uns!
Gerade der Jubilar Beethoven ist der zutiefst Mitteilsame und richtet in seiner Musik stets ein Ansinnen an uns Hörer, ihm unmittelbar über die Schulter blicken zu sollen, sich zusammen mit dem Komponisten auf einen lebendigen Dialog einzulassen. Und gerade die große Dynamik entsteht ja bei ihm aus der Ruhe, der Nähe zur Natur, dem ganz geerdeten Menschsein. Wenn aber der Bewegungspuls von vorn herein überdreht ist, ist auch der dynamische Ausschlag begrenzt, ja verengt. Viele begabte dynamische junge Menschen machen sich das nicht klar.
Man muss kein Aussteiger oder „Welt-Entfremdeter“ sein, um sich dem Sog des Aktionismus zu entziehen, aber es braucht Mut, Persönlichkeit und Unbeirrbarkeit im Nachvollzug des klassisch-romantischen Sprachduktus, um sich die kulturell erarbeitete, „menschlich adäquate“ Mitteilungsebene, welche die Voraussetzung für ein gültiges, „zeitloses“ Verständnis der Kunst ist, zu erhalten bzw. sie wiederzuerlangen. Auch wenn wir uns dem Kern eines Werkes nur in konzentrischen Kreisen nähern können, müssen wir ihm auf allen Ebenen nachgehen! Natürlich haben sich im 20. Jh. die „klassischen“ Musiker zum großen Teil nicht um eine anzustrebende Authentizität in der Interpretation bemüht. Aber das ist kein Argument, eine in weiten Teilen wissenschaftlich erhärtete Bewegungsintention (insbesondere bei Mozart und Schumann) heute von vornherein zu negieren…

Das „Machertum“, der Gott Wirtschaft - große Felder der Kultur sind auch von ihm durchsetzt - und dessen Profitgier, dessen Frechheit im Aufoktroyieren von Produkten, dessen Medienmissbrauch, dessen kapitalistisch anrüchige Unverfrorenheit etc., all das hat der Respektlosigkeit gegenüber dem Menschen, dem Individuum, Tür und Tor geöffnet. Diese wuchernde, zutiefst menschenunwürdige Respektlosigkeit torpediert ständig den Bewegungsraum gelebter Freiheit und Selbstbestimmung. So hat auch das Wort Rücksicht seine Unabdingbarkeit verloren und ist zum utilisierten Begriff verkommen („Hallo Partner“, Rücksicht im Straßenverkehr etc.). Die neue Verantwortungslosigkeit, mit welcher die Medien, die Konzerne, die Politiker in ihren die Menschen besänftigenden, selbstgerechten Vorgehensweisen immer brüsker ihre Ziele verfolgen und ihre Machenschaften durchsetzen, ist Widerhall und Resultat dieser epidemischen Respektlosigkeit. Dabei wird die Bewegungsfreiheit des einzelnen im öffentlichen Raum in geistiger, seelischer und körperlicher Hygiene gefährlich angegriffen und gestaut.
Der „unsichtbare“, (potentiell gedankliche) Dialog mit dem Nächsten ist abhanden gekommen. Insofern gilt es für jedermann, mit Eigeninitiative zu handeln und sich nicht erst auf prozessuale Entwicklungen der Gemeinschaft einzulassen. Die angestaute Ungeduld mündet in die allseitige Beschleunigung und Abwicklung von Belangen unter verstärktem Druck, egal ob von außen oder durch einen selbst verursacht. Und diese Entwicklung - weg vom menschlichen Grundverständnis bzw. Grundgefühl - zieht so rasant an uns vorbei, dass wir kaum reagieren oder uns anpassen bzw. assimilieren können, selbst wenn wir es halbwegs wollten, um uns in dieser Welt noch ein bisschen „zu Hause“ zu fühlen…
Dass dieser Trend in der Masse räsoniert, ist ein kaum geplantes, wenn auch gewissenlos angesteuertes Resultat mit o. a. Verlustmerkmalen. Die Gründe dafür sind absolut vielfältig, wurzeln aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Auswüchsen des Kapitalismus.
Dass aber auch die Kulturschaffenden auf dieses Publikum im großen Maße sich anbiedernd abzielen, sollte uns bedenklich stimmen! So werden in weiten Teilen des Theaters, des Films, des gesamten Bildungsszenariums die Sprache verstümmelt, entstellt, die Sinne überreizt, verroht (Filmbranche), die „Botschaften“ dieser, unserer fragwürdigen Realität leichtfertig oder bewusst angepasst (Theaterinszenierungen), anstatt die kulturell erarbeiteten, humanen und ästhetischen Werte einer abdriftenden Alltagsrealität entgegenzustellen! Soll denn das Theater nur „Abbild“ sein und kein kraftvolles Aufgebot menschlicher Werte?
Dieser Einwand hat absolut nichts mit dem klassischen Postulat des „Theaters als moralische Anstalt“ (Errungenschaft der Aufklärung) zu tun, sondern würde lediglich den Vernunft bedingten Versuch nach sich ziehen, kulturell zu überleben und nicht jeglichen Wertekatalog menschlicher Übereinkunft über Bord zu werfen! Immer mehr spürt man die Wahrheit von Aldous Huxleys Ausspruch, dass die Kultur unserer Gesellschaft „nur ein dünner Firnis“ sei!