Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Silvia Thurner · 04. Okt 2021 · Musik

Den Abschied mit allen Fasern ausgedeutet – das Symphonieorchester Vorarlberg und Kirill Petrenko interpretierten Mahlers Neunte

Seit dreizehn Jahren erregen die Aufführungen aller neun Symphonien von Gustav Mahler mit dem Symphonieorchester Vorarlberg und Kirill Petrenko am Pult höchstes Aufsehen und ernten Bewunderung. Zum Abschluss des Mahlerzyklus „9x9“ füllte sich das Bregenzer Festspielhaus bis auf den allerletzten Platz. Eine große Spannung lag in der Luft, denn wohl die meisten waren sich bewusst, dass hier ein ganz besonderes Ereignis über die Bühne gehen wird. Mahlers Neunte stellt einen in die Zukunft weisenden musikalischen Monolithen dar, eine Dekomposition musikalisch-thematischer Wesensmerkmale einer Symphonie. Die Musikerinnen und Musiker gaben alles, sie spielten spontan und geistesgegenwärtig und stellten eine Werkdeutung in den Raum, die gut und gerne mit Superlativen beschrieben werden kann.

Dass Kirill Petrenko ein Dirigent mit einer fantastischen Körpersprache und Gestik ist, die den Musiker:innen genauestens mitteilt, was er im Moment möchte, war vom ersten Ton an hör- und erlebbar. Immer dann, wenn der als Weltstar gefeierte Dirigenten am Pult steht, klingt das Symphonieorchester Vorarlberg anders, strahlend, konturiert und sehr genau nuancierend in den Lautstärkeverhältnissen. Spannend war deshalb auch die Frage, was dieses „Andere“ ausmacht, das die Musiker:innen mit Kirill Petrenko am Puls zu wahren Höhenflügen führt.
Die freundschaftliche Verbundenheit und die gegenseitige Wertschätzung boten ideale Grundvoraussetzungen. Doch im Grund genommen ist es der „andere“ Klang, den der Dirigent aus dem Orchester herauskristallisiert. Jeder Phrasierungsbogen vom Großen bis ins kleinste motivische Detail wirkte genau austariert. Nicht der harmonische Zusammenklang allein war entscheidend, sondern die nuanciert ausbalancierte Tongebung jeder einzelnen Stimmgruppe gewährte den melodischen Phrasen und allen Akkorden deren individuell spezifische Farbe und Charakteristik. Darüber hinaus forderte Kirill Petrenko von den Musiker:innen ein Pianissimo, das vollkommen in der Stille aufgehoben schien. Diese Wesenszüge und die leidenschaftliche Musikalität verliehen der Werkdeutung von Gustav Mahlers neunter Symphonie eine mitreißende Lebendigkeit.

Lebendige und wahnwitzige Kommunikation

In sich gekehrt und ruhig leitete das Orchester die Eröffnung ein. Aus einem Seufzermotiv heraus entwickelte sich allmählich der raumgreifende musikalische Satz. Sehr bald wurde erfahrbar, in welcher Form Mahler die sich aufbäumende Kräfte immer wieder in sich zusammen sinken ließ. Genau diesen Energiefluss loteten die Musiker:innen aus, einesteils mit impulsiven Vergrößerungen der musikalischen Gesten und andernteils bis hin zum Stillstand. Auf engem Raum wurden die musikalischen Motive umgedeutet. Kammermusikalische Dialoge wirkten wie personalifizierte Stimmen, die Gustav Mahler in seiner Neunten auftreten ließ. Sämtliche Soli formten die Musikerinnen und Musiker aus den Reihen des SOVs bewundernswert aus.
Auch die beiden mittleren Sätze hatten es in sich. Kirill Petrenko wählte rasche Tempi. Der Irrwitz des zweiten Satzes „im Tempo eines gemächlichen Ländlers“ kam von Beginn an ausgeprägt zur Geltung, denn die übersteigerten Themen des Ländlers wurden wunderbar übersteigert, skelettiert und in wahnwitzigen Kombinationen zueinander in Beziehung gestellt. Durch die haargenaue und auch kantige Artikulation lebten die wirren Überblendungen auf bis schließlich die Idiome der Tanzmusik wie bei einem Hexen- oder Totentanz aufgelöst wurden.
In einem zügigen Tempo stellten die Orchestermusiker:innen und Kirill Petrenko auch die Burleske in den Raum und schufen durch die Soli quer über das riesige Orchester hinweg einen räumlichen Ritt durch die Stimmen. Dämpfer und sogar eine Kappe über der Trompete karikierten die musikalischen Themen, die kunstvoll fugiert ineinander verwoben wurden. Alle zusammen setzen die kleingriedrig aufeinanderprallenden Floskeln energiegeladen in Szene.
Einen Abgesang stellte der Finalsatz dar, den das SOV mit einem homogenen und satten Streicherklang intonierte. Die harmonischen Farben wirkten von den tiefen Registern her ausgelotet und flossen mit einem atmenden Duktus ineinander. Wie von einer anderen Welt wirkte die Klanginsel der Holzbläser mit der simplen Quintbegleitung in der Harfe. In aller Ruhe, aber mit einer großen inneren Energie entfalteten die Musiker:innen und Kirill Petrenko das verklingende Finale, nicht resignierend, aber auch nicht tröstlich. So führte die Symphonie aus der Stille kommend und wieder in die Stille.
Jubel mit Standing Ovations erfüllten nach der intensiven Werkdeutung den Saal im Bregenzer Festspielhaus.

Die Musiker:innen auf der einen Seite und das Publikum auf der anderen Seite

Jedes Konzert lebt vom Gemeinschaftserlebnis und dem Zusammenwirken des Publikums mit den Musiker:innen. Die Abstinenz während des Coronastillstands hat eindrücklich unter Beweis gestellt, wie wichtig das gemeinsame Erleben ist und welche Energien von der Bühne in den Zuschauerraum wirken können. Die Zuhörenden sollten sich jedoch dessen bewusst sein, dass musikalische Darbietungen, die in feinst ziselierte Pianostellen münden, eine entspannte Ruhe im Raum benötigen, um wirken zu können.
Die dauernde Husterei bis fast zuletzt und die Unruhe am Beginn des Konzertes im Bregenzer Festspielhaus waren wohl für viele Musikbegeisterte überaus ärgerlich. Betroffene sollten sich fragen, ob sie wirklich derart rücksichtslos den anderen Zuhörenden und respektlos den Musiker:innen gegenüber auftreten wollen, oder ob sie erkältet und gar mit Husten(reiz) nicht doch lieber zuhause bleiben möchten.
Kirill Petrenko reagierte stoisch, indem er die Pausen zwischen den Sätzen so lange dehnte, bis sich schließlich eine konzentrierte Stimmung einstellen konnte. Mich hätte es nicht gewundert, wenn er die Darbietung insbesondere des ersten Satzes unterbrochen hätte.

Das Konzert zum Nachhören
Montag, 25.10. 2021 SOV unter der Leitung von Kirill Petrenko, Radio Vorarlberg, 20 Uhr