Bregenzer Festspiele: Holocaust-Oper „Die Passagierin“ – eine Entdeckung, die unter die Haut geht
Maßgeschneiderter Auftakt zum heurigen Motto der Bregenzer Festspiele, „In der Fremde“. Beklemmender als mit der szenischen Erstaufführung der Holocaust-Oper „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg hätte man dieser Vorgabe nicht gerecht werden können. So sehr, dass dem erlauchten Premierenpublikum mit viel Politprominenz am Mittwoch im Festspielhaus am Ende der dreistündigen Aufführung der Jubel fast im Hals stecken blieb. Uneingeschränkter Respekt gebührt vorab der Festspielleitung für ihren Mut, damit das Werk eines im Westen praktisch unbekannten polnisch-russischen Komponisten jüdischer Abstammung ins künstlerische Zentrum des Festivals gehievt zu haben. Und gleich noch mit einem Programmschwerpunkt in weiteren Konzerten zu garnieren.
Mieczyslaw Weinberg (1919 – 1996) war selber ein Leben lang auf der Flucht, litt unter Verfolgung und Diskriminierung. Schicksalshaft verknüpft mit diesen Lebensumständen ist sein kompositorisches Werk, das allein in seiner Vielfalt und Qualität Grenzen sprengt. „Die Passagierin“ entstand 1968 nach einem Roman der 1923 geborenen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz, die sich damit ihre schrecklichen Erinnerungen von der Seele geschrieben hatte, und wurde erst einmal 2006 konzertant in Moskau aufgeführt. Der Plot dürfte, nicht zuletzt dank der perfekten PR-Maschinerie der Festspiele, inzwischen den meisten Kulturinteressierten bekannt sein. Auf einer Schiffsreise mit ihrem Mann Walter nach Brasilien wird die ehemalige SS-Aufseherin Lisa von ihrer Vergangenheit eingeholt: Sie begegnet der KZ-Gefangenen Martha, die sie längst für tot hielt.
Ausgeklügelt inszenierter Psychokrieg aus Vergeltung und Rechtfertigung
Aus diesem Minimum an Handlungsvorlage entwickelt sich in der Oper ein dichtes Beziehungsgeflecht zwischen Schuld und Sühne, ein Psychokrieg aus Vergeltung und Rechtfertigung, die vor allem im ersten Teil an innerer Spannung nichts zu wünschen übrig lassen. Filmartig wird zwischen dem strahlend weißen Luxus auf dem Schiff und dem düsteren braunen Halbdunkel der Rückblenden in die Unmenschlichkeit der KZ-Welt hin und her geschnitten. Die Bühne (Johan Engels) hält dabei alle Möglichkeiten der Verwandlung und verblüffende Spielflächen offen, exzellente Lichtstimmungen (Fabrice Kebour) und sorgsam gewählte Kostüme (Marie-Jeanne Lecca) unterstreichen das Geschehen detailgenau. David Pountney als Regisseur erzählt diese Geschichte dramaturgisch ausgeklügelt, ohne Angst auch vor Gewaltszenen, harten Schnitten und Horrorszenarien wie dem Schaufeln der Asche der verbrannten Leichen aus den Öfen, mit seinem angestammten Gespür für Wirkung und mit deutlicher Bedachtnahme auf die Musik.
Weinbergs fast schon allein handlungstragende Musik
Hier hätte man sich von Weinberg eigentlich Anklänge an die Kompositionsweise seines berühmten Freundes Dmitri Schostakowitsch erwartet, der „Die Passagierin“ hoch geschätzt hat. Doch nichts dergleichen. Weinberg bleibt sehr persönlich, in einer angenehmen Polytonalität. Seine ausdrucksvolle Musik wäre fast allein handlungstragend, unterstreicht leitmotivisch Stimmungen und Gefühle perfekt, zwischen jazzigen Tanzklängen auf dem Schiff, Folkloreanklängen, skurriler Walzerseligkeit als Totentanz und martialischer Brutalität im KZ – man spürt die Routine des Filmkomponisten. Zudem ist Weinberg auch zitatenfreudig, makaber sein „O du lieber Augustin, alles ist hin“, wenn sich die Schergen über die Anzahl der zu Tode Gebrachten lustig machen. Die Wiener Symphoniker setzen diese Partitur leidenschaftlich und flexibel auf höchster Spielklasse um, mit viel Körpereinsatz angespornt von dem jungen griechischen Dirigenten Teodor Currentzis.
Enorme Anforderungen an Chor und SolistInnen
Der Prager Philharmonische Chor kommentiert das Geschehen gekonnt wie in einer griechischen Tragödie. Gesungen wird von dem sorgfältig besetzten Ensemble je nach Herkunft im Lager in einem babylonischen Sprachgewirr, das dank der eingeblendeten Übersetzung gut nachvollziehbar bleibt. Enorme Anforderungen haben die drei Hauptpartien zu erfüllen: die Martha der russischen Sopranistin Elena Kelessidi ist eine berührende Bühnenpersönlichkeit zwischen Schicksalsergebenheit und Aufmüpfigkeit, die Lisa der südafrikanische Mezzo Michelle Breedt bewundernswert in ihrer Wandlungsfähigkeit, Roberto Saccà als Walter besitzt tolle tenorale Qualitäten. Überzeugend in ihrer schneidenden Härte die heimische Schauspielerin Heide Capovilla als Oberaufseherin.
Dass die heute 87-jährige Romanautorin Zofia Posmysz persönlich der Premiere beiwohnt und am Schluss auf der Bühne vom Publikum mit Standing Ovations geehrt wird, gibt dem Abend erschreckende Aktualität als beklemmendes Statement gegen das Vergessen. Fünf internationale Opernhäuser haben bereits Übernahmen dieser Produktion fixiert, weitere zeigen Interesse. Angesichts der Thematik können es wohl nie genug sein.