Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Peter Füssl · 10. Aug 2020 · Musik

Bezau Beatz 2020 „Limited Edition“ – Limitiert war nur die Anzahl der FestivalbesucherInnen

„Kreativität ist immun und wird auch wieder ein Ventil finden“, zeigte sich Bezau Beatz-Mastermind Alfred Vogel in einem Interview in der aktuellen KULTUR-Zeitschrift vor dem Festival optimistisch. Tatsächlich sind am 7. und 8. August seine Erwartungen – und wohl auch jene der meisten der 100 Bezau-Beatz-Fans – voll aufgegangen, denn limitiert waren in der Remise des Wälderbähnles nur die Besucherzahlen. Musikalisch wurde ein breites Spektrum an hochkarätigen Acts präsentiert, die sich weder um Genregrenzen noch um kommerzielle Gesichtspunkte großartig zu scheren scheinen und dadurch musikalische Aspekte und Perspektiven eröffnen, die alles andere als gewöhnlich sind. Genau dafür lieben aufgeschlossene Musik-Fans mit offenen Ohren und einem Faible für das etwas Andere die Bezau Beatz! Dementsprechend groß war die Freude, dass Vogel das ursprünglich Corona-bedingt abgesagte Festival doch noch stattfinden ließ – in an die sicherheitsmäßigen Gegebenheiten adaptierter Form, aber vom künstlerischen Anspruch her kompromisslos.

Zum Auftakt ein Streichquartett

 

Schon beim Auftakt mit dem Adelphi Quartett war schnell klar, dass das neue Raumkonzept, die Bühne auf die Längsseite der Remise zu verlegen, den Publikumsraum dadurch auseinanderzuziehen und für die notwendigen Abstände zwischen den Musikfans zu sorgen, voll aufgegangen ist. Zumal es weder von der Sicht noch von der Raumakustik her irgendwelche Einschränkungen gab. Genial!

Der Belgier Maxime Michaluk und Esther Agusti aus Barcelona an den Violinen, der Serbe Marko Milenkovic an der Viola und der Münchner Cellist Nepomuk Braun haben vor allem zwei Gemeinsamkeiten: das Salzburger Mozarteum als Talenteschmiede und ein sicheres Gespür für spannende und hochinteressante Stücke und deren wirkungsvolle Zusammenstellung. Die jungen MusikerInnen überzeugten mit einer erstklassigen Klangkultur und fanden dank einfühlsamem und hochsensiblen Musizierens mühelos zu einem wundervollen Kollektivklang. Auf drei mit allerlei musikalischen Modernismen gespickten und fintenreichen Stücken für Streichquartett von Igor Strawinsky ließen sie Klassisches von Josef Haydn folgen – zart schmelzend, munter galoppierend, folkloristisch inspiriert, dramatisch und beschwingt. Zum Höhepunkt geriet schließlich das Streichquartett Nr. 9. in Es-Dur von Dmitri Schostakowitsch, denn in der 1964 entstandene Komposition reiben sich Melancholisches und Nachdenkliches, Hoffnungsfrohes und Beschwingtes – ein wahres Feuerwerk aus unterschiedlichsten Stimmungen und avantgardistischen Einfällen, die in vielerlei Hinsicht die musikalischen Entwicklungen der folgenden fünfzig Jahre vorausahnen ließen. Vom Adelphi Quartett grandios gespielt, und vom begeisterten Publikum mit tobendem Applaus bedacht.

Aber bei den Bezau Beatz muss man mit allem rechnen. So überraschten bei der folgenden Fahrt mit dem Wälderbähnle die McLauts mit schottischen Dudelsackklängen, die aber auch vor Pop-Hits nicht Halt machten. 

Falling! – Ein Wiedersehen mit Mats Gustafsson

 

Der schwedische Saxofonist Mats Gustafsson war bereits mit seinen im Avantgardebereich bedeutsamen Ensembles „The Thing“ und „Fire!“ bei den Bezau Beatz zu Gast. Mittlerweile im Burgenland ansässig, präsentierte er sich heuer im Duo mit dem Wiener Elektronik-Spezialisten Christoph Kurzemann – und wie es sich für Gustafsson gehört, überraschte er auch heuer mit Unerwartetem. Sonst für seine kraftvolle Spielweise und berserkerhaften Ausbrüche bekannt und geliebt, entlockte er in diesem Duo einem beeindruckenden Arsenal an Saxophonen und Flöten vorwiegend suchende, sich herantastende Töne, Klappengeräusche, atmete und stöhnte in die Instrumente – alles begleitet, unterlegt und überlagert von Kurzemanns knarrendem, knarzendem, tröpfelnden Wellensalat. Gefallen/nicht gefallen sind keine geeigneten Denkkategorien für Experimente dieser Art, die konventionelle Hörgewohnheiten ganz konsequent nicht bedienen. Nur selten gibt Gustafsson seine zurückhaltende Haltung auf und lässt die Saxophone auf seine sonst so charakteristische Weise explodieren – das bekam man von ihm dann erst einen Tag später zum Festivalabschluss bei einer Performance mit der Sängerin Almut Kühne und der Tänzerin Nayana Keshava Bhat in der Tennishalle geboten. 

Dell/Lillinger/Westergaard auf neuen Wegen

 

Berlin zählt längst zu den absoluten internationalen Hotspots für außergewöhnliche musikalische Entwicklungen, zu den wesentlichen Protagonisten dieser vibrierenden und stets für Überraschungen guten Szene zählen auch der Vibraphonist Christopher Dell, der Schlagzeuger Christian Lillinger und der aus Dänemark stammende Kontrabassist Jonas Westergaard. Im Trio suchen sie neue Wege, Notiertes oder zumindest vorneweg gemeinsam Verabredetes mit Spontaneität und der absoluten Freiheit des Improvisierens zu verbinden, die vollständige Gleichberechtigung aller Beteiligten selbstverständlich vorausgesetzt. Ein Lieblingsthema des genialen Ausnahmedrummers, das er zuletzt auch mit seinem Nonett auf dem epochalen Album „Open Form For Society“ variierte. Diese dem musikalischen Geschehen zugrunde liegenden Gedankenspiele und möglicherweise zukunftsweisenden Strategien muss man aber gar nicht kennen, um der ungemein intensiven, zugleich komplex und transparent wirkenden, stets irgendwie auseinander- und zusammenstrebenden Musik dreier zum Trio verschmolzenen Superindividualisten mit offenem Mund zuzuhören. Allein schon Christians Lillingers unvergleichliche Schlagzeugkunst, die wie ein inniger Tanz mit Trommeln, Becken und Perkussionsinstrumenten wirkt, oder wie ein ritualisierter Kampf, der ihn abheben lässt, würde das Konzert zum unvergessenen Erlebnis machen. 

Maya Homburger und Barry Guy – ein musikalischer Spaziergang durch die Jahrhunderte

 

Einen guten Teil des Jahres verbringen die Schweizer Violinistin Maya Homburger und der legendäre englische Kontrabassist Barry Guy in ihrem Domizil in Winterthur, eine räumliche Nähe, die es Alfred Vogel relativ einfach machte, das geniale Paar für die Bezau Beatz zu engagieren. Bei ihrem morgendlichen Auftritt in der Pfarrkirche wurde aber rasch auch klar, dass dieses Duo zugleich eine passende Verkörperung des Festivalgedankens ist: virtuos, vielseitig, grenzsprengend, unkonventionell, hochkarätig, mit Herzblut musizierend. Im vielseitigen Programm fand sich eine Hymne aus dem 9. Jahrhundert ebenso wie eine Hommage des ungarischen Neutöners György Kurtág an J. S. Bach, und zwischen Bachs „Allemanda in d-moll“ und Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 10 waren eine ganze Reihe höchst interessanter, experimentierfreudiger und immer wieder auch witziger Kompositionen Barry Guys platziert. Der Einladung zum musikalischen Spaziergang durch die Jahrhunderte folgte man überaus gerne, denn das Duo ließ Barockmusik, Jazz und freie Improvisation in ihrer Eigentümlichkeit wirken und brachte dennoch mit spielerischer Leichtigkeit einen alles überspannenden, atmosphärischen Bogen zustande, der ihren ausgeprägten musikalischen Persönlichkeiten zu verdanken war. Der wunderschön verhallte Klang im großen Kirchenraum verstärkte die Wirkung. Beide kamen auch solistisch zur Wirkung und konnten ihren enormen musikalischen Erfahrungsschatz voll ausspielen. Wie Barry Guy seinen fünfsaitigen Kontrabass mit unterschiedlichsten Bögen, Stäben und Pinseln traktierte, zupfte, streichelte und schlug, ihm alles zwischen zartesten Tönen und Hardrock-Gewitter entlockte, war ein Erlebnis für sich weckte Erinnerungen an seine phänomenalen Auftritte ab Mitte der 1970er Jahre als einer der Hauptakteure der britischen Free Jazz-Avantgarde. 

Prinz Grizzley – aus Zeit und Raum gefallen

 

1974, Rocky Mountains, Colorado. Eine vierköpfige Country-Band präsentiert gerade open air vor einer prächtigen Bergkulisse ihre neue Schallplatte, als sich von oben ein Ufo nähert und die vier Musiker mitten in einem Song, schwuppdiwupp, mittels Transporterstrahls inhaliert. 46 Jahre später setzen die Außerirdischen die Band im Panoramarestaurant Baumgarten über Bezau ebenso unvermittelt wieder ab. Sie spielen noch denselben Song, als hätten sie nie aufgehört zu spielen, und die umgehend zum Publikum mutierenden Anwesenden staunen keineswegs, sondern sind begeistert, als wären sie schon damals in Colorado mit dabei gewesen. Eine Band, die aus Zeit und Raum gefallen ist, denn der aus Country, Bluegrass, Blues und diversen Americana-Spielformen genährte Sound von Prinz Grizzley & his Beargaroos funktioniert mit Zitterklapfen und Mohnenfluh im Hintergrund ebenso perfekt wie in Kentucky oder Tennessee. Kontrastprogramme solcher Art haben Platz im Bezau-Beatz-Konzept, verwöhnen die Gehörgänge auf angenehme Weise mit Vorhersehbarem, sorgen für akustische Erholung und lassen die Vorfreude auf den nächsten unkonventionellen Gig wachsen. Übrigens: Im Bregenzerwald hören die Musiker auf die Namen Christoph Comper, der Jogi, Claude Meier und Andreas Wettstein, wie sie sich damals in Colorado nannten, ist der Redaktion nicht bekannt.

Gropper/Aaron/Henkelhausen/Black – Berlin lässt nochmals grüßen

 

Auch der Saxophonist Philipp Gropper zählt zu den vielbeschäftigten Protagonisten der angesagten Berliner Szene, besonders bekannt wurde er im Trio „Hyperactive Kid“ mit dem bereits erwähnten Drummer Christian Lillinger und dem Gitarristen Ronny Graupe. Zum Wahl-Berliner ist seit einigen Jahren der renommierte US-amerikanische Schlagzeuger Jim Black geworden, der unter anderem in Tim Berne’s Bloodcount oder Dave Douglas‘ Tiny Bell Trio oder mit den eigenen Bands Pachora und AlasNoAxis international bekannt geworden ist. Die beiden haben schon vielfach miteinander gespielt, beweisen nun aber ihre ungebrochene Experimentierlust dadurch, dass sie im neuen Quartett ausschließlich Kompositionen ihrer blutjungen musikalischen Partner – Kontrabassist Felix Henkelhausen und Gitarrist/Elektroniker Luca Aaron – präsentieren. Die beiden schöpfen lustvoll aus den vollen Töpfen an der Schnittstelle von Jazz, Rock, freien Improvisationen und elektro-akustischer Musik. Sie konstruieren und dekonstruieren, dass es eine wahre Freude ist, Black lässt immer wieder seine Drums explodieren und Aaron steuert rockige Ausbrüche bei, sie peitschen sich wechselseitig hoch oder pirschen sich vorsichtig an etwas heran, verblüffen mit extremen Tempowechseln, Muskulöses und Subtiles gehen Hand in Hand. Ein Quartett mit Zukunft!

Dhalgren – Ein Avantgardist als Singer-Songwriter

 

Der Bassist Chris Dahlgren wurde in New York durch Musiker wie Anthony Braxton im Avantgarde-Jazz sozialisiert und in die brodelnde Szene integriert, er hat bei La Monte Young Komposition studiert, aber auch ihn hat es vor ein paar Jahren nach Berlin gezogen, wo er sich immer mehr zum Multiinstrumentalisten entwickelt hat. Auch bei der Präsentation seines zweiten Singer-Songwriter-Albums „Songs From A Dystopian Utopia“, das er letztes Jahr in Bezau mit Little Konzett und Alfred Vogel für dessen Boomslang Records aufgenommen hat, griff er abwechslungsweise zur akustischen Gitarre, zur Viola da Gamba oder zur türkischen Langhalslaute Baglama. Gitarrist Arne Braun, die Vibraphonistin und Perkussionistin Evi Filippou, Kontrabassist Sidney Werner und Alfred Vogel an den Drums woben gemeinsam mit ihm an einem buntschimmernden, faszinierend abwechslungsreichen musikalischen Teppich als ideales Transportmittel für seine irgendwie geheimnisvoll wirkenden, in die dunklen Winkel Berlins ebenso hineinleuchtenden, wie in die unerforschten Tiefen der menschlichen Seele hinunterleuchtenden Texte. Als Einflüsse nennt er unter anderem Aldous Huxley und das russischen Science-Fiction-Autoren-Brüderpaar Arkadi und Boris Strugazki, der einzige Fremdtext ist der „Fairies‘ Song“ aus Shakespeares „A Midsummer Night’s Dream“. Dahlgrens eigentümlicher Sprechgesang hat etwas Faszinierendes, ja Hypnotisierendes und korrespondiert auf ideale Weise mit den komplexen und doch eingängig wirkenden musikalischen Arrangements, die alle Beteiligten auch mit Backgroundgesang auffetteten. Zu einem unerwarteten Höhepunkt des Konzerts geriet der Überraschungsauftritt der jungen, unglaublich vielseitigen deutschen Vokalistin Almut Kühne, die im Jazz ebenso zuhause ist wie in der Neuen Musik. Mit ihrer virtuosen Experimentierfreude, ihren technischen Fähigkeiten und mit ihren phantasievollen Überraschungseffekten erinnert sie auf wundervolle Weise an die junge Lauren Newton.  

Nach diesem eindrucksvollen Gig war klar, dass man sich nächstes Jahr gerne bei den Bezau Beatz wiedersehen würde. Mit oder ohne Corona – aber wenn man sich’s wünschen darf, natürlich lieber ohne. Denn dieses Programm hätte auch mehr als den hundert glücklichen Auserwählten einen spannenden musikalischen Input bereitstellen können, von dem man/frau wieder lange Zeit zehren kann.