Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Fritz Jurmann · 15. Aug 2011 · Musik

Bayreuther „Tannhäuser“: Schwangere Venus in der Biogasanlage – doch Wagner gewinnt immer!

Mit Bayreuth ist das immer so eine Sache. Man kann im oberfränkischen Wagner-Mekka Sternstunden erleben, wenn man Glück hat. Oder auch das genaue Gegenteil. Bei der diesjährigen Neuinszenierung von Wagners Paradeoper „Tannhäuser“, angesetzt zur 100. Jubiläumsaison des Festivals, dreht es einem schon bei der wunderbaren Ouvertüre ordentlich den Magen um: Röntgenbilder eines menschlichen Brustkorbs, detailfreudig dargestelltes weiteres menschliches Innenleben inklusive spermienartiger Gebilde sollen das Publikum einstimmen auf den Ort der Handlung, wie ihn Bayreuth-Debütant Sebastian Baumgarten für seine Inszenierung gewählt hat: Die Wartburg ist eine Biogasanlage, in der es um nichts anderes geht als den Kreislauf, aus organischen Abfällen neue Energie zu erzeugen. Letztlich also um den menschlichen Stoffwechsel, und allein diese Idee und die dazugehörigen Videos entlarven Baumgarten als treuen Diener seines inzwischen verblichenen Meisters Christoph Schlingensief, quasi also „His Masters Voice“.

Buh-Konzert für kanalisierten Unsinn

Selbst dem Premierenpublikum war so viel kanalisierter Unsinn denn doch zu viel und ein veritables Buh-Konzert wert, und auch das deutsche Feuilleton konnte sich tage- und seitenlang nicht beruhigen und hinterfragte intellektuell die Absichten und Hintergründe dieser offensichtlichen Provokation am Grünen Hügel ein ums andere Mal, freilich mit mäßigem Erfolg, wenn auch mit durchgehender Ablehnung. Bei der von uns besuchten dritten Aufführung am Samstag haben sich die Wogen des internationalen Wagnerpublikums längst geglättet, die wenigen Buhs gingen, da ja auch der Regisseur nicht mehr anwesend war, in einem wahren Beifallsorkan unter für die musikalische Seite dieser Produktion, die Exzellentes offenbarte und die tröstliche Erkenntnis: Auch die größten Irritationen können ein Werk wie „Tannhäuser“ nicht zerstören – letztlich gewinnt doch immer wieder Wagner!

Gebuht wurde in Bayreuth natürlich auch schon früher, doch in den vergangenen Jahren ist deutlich die Tendenz spürbar, Grenzen der Akzeptanz beim bekannt konventionell gestimmten Publikum auszuloten. Verantwortlich dafür die neue Doppelführung des Festivals mit den Halbschwestern Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, beides Töchter des legendären Wagner-Enkels Wolfgang, der zuvor in Jahrzehnten die Festspiele mit einem sehr traditionsbewussten Stil im Sinne des Erfinders geprägt hat. Durchaus mit künstlerischem und pekuniärem Erfolg, denn Bayreuth ist heute bei Kartenpreisen zwischen 100 und 280 Euro etwa zehnfach überbucht, rund eine halbe Million Wagnerfans in der ganzen Welt warten Jahr für Jahr sehnlichst auf einen der begehrten Plätze, die freilich erst nach mühsam jahrelangem virtuellem Anstehen gewährt werden. Kein Wunder, dass der Schwarzmarkt blüht (bis zu 1.500 Euro) und vor jeder Vorstellung Dutzende von Leuten mit Täfelchen „Suche Karten“ auf ein Wunder hoffen.

2000 Plätze auf klappbaren Kinosesseln

Bayreuth ist das einzige Festival, dessen Gründer das Haus für seine Aufführungen selber geplant hat – mit finanzieller Hilfe des Bayernkönigs Ludwig II. Es besitzt 2000 Plätze auf klappbaren Kinosesseln – aus akustischen Gründen. Aus diesem Grund sind auch die seitlichen antiken Säulen nicht, wie es scheint, aus Marmor, sondern aus Holz. Und aus dem unsichtbaren Orchestergraben mischt sich nach Wagners Willen heute noch ein wunderbar abgerundeter Orchesterklang, der auch bei größter Lautstärke der 140 Musiker nie die Sänger übertönen kann.

Wer also eine der begehrten Karten ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Denn Bayreuth muss man erlebt haben, auch von seiner Atmosphäre her ist dieses Festival einzigartig. Eine Art Pilgerstätte zu Wagner, die man sich im Smoking, zumindest im dunklen Anzug oder im langen Abendkleid gibt, wenn man nicht unangenehm auffallen will. Bei allen künstlerischen Freiheiten dominiert im Ablauf dennoch deutscher Perfektionszwang. Die Vorstellungen beginnen auf die Sekunde genau um 16 Uhr und dauern, mit je einer einstündigen Pause nach jedem „Aufzug“, wie die Akte bei Wagner heißen, zur Erholung für Zuhörer und Akteure, je nach Stück längstens bis 23 Uhr. Jeweils fünfzehn, zehn und fünf Minuten vor Beginn jedes Aufzuges mahnen Fanfarenbläser vom Balkon des Festivalhauses das Publikum mit Themen aus der laufenden Oper zur Rückkehr ins Haus. Danach wird man auch mit der besten Ausrede nicht mehr eingelassen.

„Alkoholator“ und barbusige Madonna

Bei „Tannhäuser“ hat es Wagner bezüglich der Länge gnädig gemeint mit dem Publikum, um 21.15 Uhr ist die Vorstellung zu Ende, in den umliegenden Gasthäusern gehen jetzt erst richtig die Diskussionen los über eine Inszenierung, mit der kaum jemand wirklich zurecht kommt. Zu abstrus ist die optische Dominanz der mehrstöckigen erdrückenden Fabriksanlage mit ihren Schläuchen und Kesseln wie einem „Alkoholator“ mit Auslässen für jeden Tag der Woche, sind die Einblendungen einer barbusigen Madonna mit den Worten „Kunst“ und „Arbeit“. Dass der Venusberg hier quasi im Untergeschoss der Bühne angesiedelt ist und wie ein riesiger Vogelkäfig im knallroten Licht in die sterile Fabriksatmosphäre hochfährt, ist natürlich ein toller Effekt. Das darin befindliche Gelichter aus tierähnlichen Zombies ist freilich schwer im Zaun zu halten und zerstört mit seinem Gehopse die Stimmung im traumhaften Finale. Das sind billige Effekte aus der Musical- und Filmbranche, die bei Wagner nichts zu suchen haben.

Schließlich zum Musikalischen, dessentwegen allein sich die lange Reise nach Bayreuth gelohnt hat. Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals wurde die musikalische Leitung einer Wagner-Oper einem Dirigenten übertragen, der aus der Alten-Musik-Szene kommt. Thomas Hengelbrock hat mit dieser Spezialisierung hierzulande mehrere Jahre markant das Feldkirch Festival geprägt, er gibt auch Wagners „Tannhäuser“ mit Hilfe einer Originalpartitur in der so genannten „Dresdner Fassung“ eine recht ungewohnte, aber letztlich faszinierende Deutung. Wenn man sich auf sein Credo einlässt, dass man Wagners Musik auch ohne die hörgewohnte opulente Schwülstigkeit spielen kann, abgeschlankt, auch etwas rauher als gewohnt, dann macht das durchaus Sinn. Bei unserer Vorstellung war Hengelbrock kurzfristig erkrankt, sein Assistent Peter Tilling brachte das Kunststück zuwege, die Aufführung im Sinne von Hengelbrocks Klangkonzept ohne gesonderte Probe pannenfrei über die Rampe zu bringen.

Chor und Orchester als Bayreuth-Konstante

Auf sensationellem Niveau agieren wie gewohnt auch in diesem Jahr Chor und Orchester, beide traditionell jährlich neu zusammengesetzt aus exzellenten Sängern, die auf deutschen Bühnen sonst Hauptrollen verkörpern, und ebensolchen Musikern aus Qualitätsorchestern. Das ergibt speziell bei den von Eberhard Friedrich betreuten und vom Publikum umjubelten Chorauftritten wie dem frommen „Pilgerchor“ eine archaische Kraft und ereignishafte Klangqualität, wie man sie auf dieser Höhe wohl nur hier erleben kann. Desgleichen ist das Orchester ein Präzisionsinstrumente, das seinesgleichen sucht, fantastisch-fantasievoll in feinen Farben abgemischt und von großer Leidenschaft.

Mit enormer Intensität bringt das internationale Ensemble Wagners ewiges Rollenspiel um Schuld, Sühne, Erlösung und Verklärung über die Rampe, bleibt im seelischen Konflikt Tannhäusers trotz aller Regiemätzchen der letztendliche Sieg der himmlischen über die sinnliche Liebe das zentrale Thema. In der gefürchteten, kräfteraubenden Titelpartie stellt der schwedische Tenor Lars Cleveman diese innere Wandlung durchaus glaubhaft dar und bleibt auch stimmlich markant kaum etwas schuldig. Erstmals wohl in der Interpretationsgeschichte dieser Oper ist die Venus bei Baumgarten schwanger und kommt am Schluss wirklich mit einem kleinen „Tannhäuserle“ nieder, dessen Vaterschaft freilich ungeklärt bleibt. Das hätte man noch akzeptiert, wäre die Rolle mit der amerikanischen Sopranistin Stephanie Friede nicht so unerotisch und auch gesanglich indiskutabel besetzt gewesen.

Dafür glänzt im Gegenpart die im Wagner- und Strauß-Fach international gefeierte finnische Sopranistin Camilla Nylund als Elisabeth umso mehr – eine fantastische Bühnenerscheinung von fast überirdischer Ausstrahlung, wie aus einem Hollywood-Historienfilm, hochdramatisch in ihrer „Hallenarie“, doch nie schrill. Dass sie am Schluss den Freitod im Gas der Anlage wählt, ist ein Regieeinfall, der vielen nicht in den Kopf will. Zweifellos eine Entdeckung als quirliger Hirtenknabe die junge deutsche Sopranistin Katja Stuber, in nobler Phrasierung und Wärme der Landgraf des österreichischen Bassisten Günther Groissböck, mit kluger Gestaltung der Wolfram des ungarischen Baritons Michael Nagy.