Zu Gast im Theater KOSMOS – Lukas Bärfuss: MALINOIS
Anfang Juli – nach vier Monaten Unterbrechung durch Covid-19 – der erste Abend im Theater KOSMOS in Bregenz. Der blaue Vorhang hinter dem Podest, der Tisch, die zwei Stühle und die Wassergläser: lange gesehnt und erwartet. Hubert Dragaschnig, einer der beiden Theaterleiter (neben Augustin Jagg), trat aufs Podest und begrüßte das zur Lesung des Zürcher Schriftstellers Lukas Bärfuss gekommene Publikum. Zur Veranstaltung eingeladen hatte das Franz-Michael-Felder-Archiv, dessen Leiter, Jürgen Thaler, den Abend moderierte, in Kooperation mit dem Theater KOSMOS.
„Jede Literatur sollte zuerst vom gelebten Leben erzählen.“ (Lukas Bärfuss)
Lukas Bärfuss las an dem Abend zwei Erzählungen aus „Malinois“, dem im Wallstein Verlag erschienenen Erzählband, für den er 2019 mit dem GEORG-BÜCHNER-PREIS ausgezeichnet wurde. In diesem Band versammelt der Theaterautor, Romancier und Essayist insgesamt 13 Erzählungen, die in sinnlich-poetischer und analytischer Sprache von Männern am Abgrund des Alltags handeln sowie den Fragen der Liebe, bzw. was sie denn ausmacht, nachgehen. Wie begegnen wir uns? Welche Sehnsüchte treiben uns um? Bärfuss kartographiert und inventarisiert die Leidenschaften und Grenzerfahrungen, die wir mitten im Alltag machen können: Momente im Transit, Momente der Verwandlung.
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss, geboren 1971, lebt im 110 km entfernten Zürich. Er wurde bekannt durch Stücke wie „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (2003) und Prosawerke, unter anderem den Ruanda-Roman „Hundert Tage“ (2008) sowie das autobiografisch grundierte Bruder-Porträt „Koala“ (2014), in dem er den Suizid seines Bruders thematisiert. Unter seinen Essays sorgte vor allem der 2015 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichte Text „Die Schweiz ist des Wahnsinns“ für viel Aufregung in seinem Heimatland. „Die Schwäche und die Stärke des Schriftstellers Lukas Bärfuss ist es, dass er sehr viel geschickter mit Gedanken jongliert als mit Emotionen“, schrieb der Spiegel in seinem Feuilleton.
Zu Beginn, als Ouverture zu einem höchst interessanten kurzweiligen Abend, reden Jürgen Thaler und Lukas Bärfuss über eine Reihe von en passant angerissenen Fragen, im Speziellen besonders über die persönlichen und gesellschaftlichen Covid-19-Erfahrungen, jene Zeit, als wir alle von der Außenwelt distanziert waren und viel Neues entdeckt und erfahren haben, über die „Arroganz der Verschonten“, über „das Genie der Schweiz“ und die „Äußerungen des kollektiven Bewusstseins jenseits der Differenzen“. Im Dialog erörtern der Gast aus Zürich und der Gastgeber aus Bregenz die durch Kritik fortschreitende Krise, den kindlichen Glauben an die Wissenschaft und die Methoden. Ins Zentrum rückt dabei die kritische Öffentlichkeit, das Aufmerksam-Bleiben, die Dialektik zum Wort, der kritische Umgang mit den Medien und den Medienschaffenden. Bärfuss meinte, er habe seit Beginn der Corona-Pandemie noch mehr kritische Medien gelesen, u. a. „China Daily“, um ein konsistentes Bild der Wirklichkeit zu entwickeln. Er zitiert u. a. auch aus Briefen Walter Benjamins, die Bärfuss übersetzt hatte, „Die Angst der Journalisten“.
Die Schweiz und „das Ende vom Toblerone-Fondue“
Am 24. März 2020 druckte der SPIEGEL einen Gastbeitrag von Lukas Bärfuss ab, der für heftiges Aufsehen sorgte. Titel des Beitrags „Das Kapital hat nichts zu befürchten, der Mensch schon“. Was macht Corona mit dem Leben? … so die Bärfuss-Frage in der Spiegel-Reihe, in der Künstler*innen, Autor*innen und Denker*innen über die großen Fragen in der Krise schreiben. Ob es bloß das Ende vom gemeinsamen Toblerone-Fondue sei und wie es denn sein könne, dass in der Schweiz, in der sonst alles perfekt funktioniere, jetzt offenbar alles besonders schwierig sei, besonders in einer Wirklichkeit anzukommen, in der überhaupt nichts mehr funktioniere. „Jene, die meinen, es sei unangebracht, mitten in der Krise darüber zu räsonieren, wie die Schweiz auf diese Pandemie vorbereitet gewesen sei, haben natürlich Recht. Allerdings nicht, weil diese Diskussion und jede Kritik an den Behörden in diesen schweren Zeiten unpatriotisch ist. Die Frage stellt sich einfach nicht.“ (Bärfuss, im Spiegel v. 24.3.2020)
Bärfuss kommt der Schweiz insgesamt und deren partikularen Interessenslagen ganz direkt und unverhohlen: „Unnötig verlorene Menschenleben wird dieses Land verkraften. Sterben, so die herrschende Gleichgültigkeit, müssen wir schließlich alle. Deshalb die stets nachgeschobene und sehr beruhigende Bemerkung, der an diesem Virus Verstorbene sei alt oder gesundheitlich vorgeschädigt gewesen. Schade wäre es nur um die Jungen, Starken und Gesunden.“
Die Jury des letztjährigen Büchner-Preises begründet die Auszeichnung des Schweizer Dramatikers, Erzählers und Essayisten wie folgt: „In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache, karg, klar und trennscharf, durchdringen sich nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit.“ Bärfuss kommentierte die Auszeichnung: „Das ist der Engelskuss, der einen da trifft." An Prosa veröffentlichte er bislang seine Debüt-Novelle „Die toten Männer“ (2002), den Roman „Hundert Tage“ (2008) über den Völkermord in Ruanda, „Koala“ (2014) über den Suizid seines Bruders und „Hagard“ (2017), dessen Geschichte um einen erfolgreichen Geschäftsmann kreist, der sich durch obsessives Begehren aus allen sozialen Bindungen löst.
„Ich möchte so schreiben, wie ich träume“
… sagt der Autor im letzten Teil des Abends. Im Gespräch über seine an diesem Abend gelesenen Texte gibt der Autor und Dozent für Dramaturgie Einblick in seine literarischen Verfahrensweisen, sein Vorverständnis zur Konstruktion und Fabrikation literarischer Texte und geht besonders auf die Frage ein, „die jede Geschichte enthält, nämlich jene ihrer Entstehung“ (Nachbemerkungen zu „Malinois“, S. 127). „So ist jede dieser Erzählungen mit einem bestimmten Moment verbunden, und in dieser Verbindung wollte ich sie belassen. Texte kann man korrigieren, überarbeiten, erweitern, aber ich glaube, jede Literatur sollte zuerst vom gelebten Leben erzählen, und dieses, im Guten wie im Schlechten, bleibt von jeder nachträglichen Redaktion ausgeschlossen.“ (a.a.O., S. 128). Bärfuss kennt das literarische Repertoire, die Bedeutung der exakten Arbeit am Text, vor allem das Kürzen, und kennt auch jene Erzähltraditionen und Konstruktionsvarianten von Theaterstücken, wie zum Beispiel: „Man muss das Leben nicht darstellen, wie es ist, und nicht, wie es sein soll. Sondern so, wie es in den Träumen ist“ (aus Anton Tschechow: Tagebuch zu "Die Möwe“, 1894/95).
Der Abend mit den Fragen und Themen, die die beiden Protagonisten austauschten, mit den Fragen aus dem Publikum war eine „Expedition in das Innere der menschlichen Seele“ und markiert für mich die Rückkehr der Literatur nach der großen Unterbrechung durch Covid-19. Ich schätze diese genauen Beobachtungen, die sprachliche Präzision und Prägnanz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Theater KOSMOS als Diskursort. Und ich habe mich sehr gefreut, viele Bekannte und Freunde wieder zu sehen. Wir hätten bitte gerne mehr davon. Herr Bärfuss, kommen Sie wieder!