Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Werner Bundschuh · 08. Feb 2022 · Literatur

„Wunsch nach einer heilen (katholischen) Welt…“

Wer sich künftighin mit der Vorarlberger Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts befasst, kommt an diesem Werk nicht vorbei. Oder genauer gesagt: an den Ausführungen von Univ. Prof. MMA Dr. Prof. hc. Gerhard Wanner (Jg. 1939). Sein Hauptbeitrag umfasst 308 Seiten und ist mit dem Titel „Wunsch nach einer heilen Welt. Anmerkungen zur Kunstgeschichte Vorarlbergs im 19. Jahrhundert“ versehen.

„Die moderne Kunst ist der Pfuhl des Lasters“

Über 200 wissenschaftliche Fachpublikationen gehen auf das Konto von Gerhard Wanner. Generationen von Lehramtsanwärter:innen konnten von seinem breit gestreuten Fachwissen profitieren. Er studierte Geologie, Mineralogie, Geographie, Geschichte und Kunstgeschichte. In den 70er Jahren war er Kunstkritiker in den „Vorarlberger Nachrichten“ und als langjähriger Geschäftsführer und Obmann prägte er die Rheticus-Gesellschaft. Von 1972 bis 1990 leitete er das Stadtarchiv Feldkirch und die Kunstgalerie Palais Liechtenstein.
Als Zeithistoriker profilierte er sich mit der Studie „Kirche und Nationalsozialismus in Vorarlberg“ (1972). Ein halbes Jahrhundert später untersucht er nun das Kunstverständnis der konservativen Landeselite und ihrer Rezipient:innen bis Anfang 20. Jahrhundert anhand der „veröffentlichten Meinung“ in den Vorarlberger Zeitungen – in erster Linie jene des „Vorarlberger Volksblatts“. Dabei verknüpft er die Kunstgeschichte mit politischen, sozialen und psychologischen Aspekten. Ein Anliegen steht dabei im Vordergrund: Das verquere Frauenbild dieser Zeit im konservativen „Herrgottswinkel“ der Monarchie zu veranschaulichen und die besonderen Schwierigkeiten von Künstlerinnen in dieser fast ausschließlich katholisch-patriarchalischen Welt aufzuzeigen. Der Grundbefund ist dabei nicht neu. „Vorarlberg“ war kein Hort der „Aufklärung“, die „Liberalen“ waren eine verschwindende Minderheit. Hier dominierten ab 1870 die erzkonservativen, „ultramontanen Kasiner“, dann die „Christlichsozialen“. Sie verwendeten die „religiöse Kunst“ für ihre politische Agenda, und die war, das hoch industrialisierte Textilland in eine Art „katholischen Kirchenstaat“ umzuformen. In der 2. Jahrhunderthälfte dienten dazu der „Nazarener-Stil“ und die „Neugotik“. Künstler wie Gebhard Flatz hielten sich an die Verdammnis „der Moderne“ von Papst Pius IX. Im „Vorarlberger Volksblatt“ vom 26.8.1898 findet sich die Zusammenfassung, warum die zeitgenössischen Kunstentwicklungen – etwa in Frankreich – für fromme Christenmenschen grundsätzlich abzulehnen seien: „Die moderne Kunst ist der Pfuhl des Lasters. In ihrer Richtung greift sie das Christentum in der Wurzel an und weil sie die Sittlichkeit kitzelt, hat sie den großen Erfolg.“
Die katholischen Fundamentalisten wollten mit allen Mitteln das „Pariser Parfum der Verwesung“ (S. 169) von den „alemannischen Landesgrenzen“ fernhalten. Die einzige Institution, die sich damals einigermaßen fundiert mit „der Kunst“ auseinandersetzte, war das 1857 gegründete Vorarlberger Landesmuseum. Zunächst dominierten dort die Liberalen und die „Fortschrittlichen“. Das Museum war ein gewisser Gegenpol zum „schwarzen Meer“ ringsum. Wanners zusammenfassender Befund dazu: „Doch der Verein war nur einer kleinen Gruppe von etwa eintausend Bildungsbürgern vorbehalten – etwa ein Prozent der Landbevölkerung.“ (S. 297)

Hüter der Moral sorgten für Abwehr der Moderne

Das Verdienst der nun vorliegenden Arbeit besteht darin, einen Fundus von Belegen aus dem Bereich der Kunst für die Abwehr „der Moderne“ im Land zu liefern. Dass die „Moderne“ hier nicht Fuß fassen konnte, dafür sorgten die „Hüter der Moral“, die politisierenden Kleriker und die konservativen Landes- und Gemeindepolitiker. Eine Künstler:innen-Existenz in dieser kulturfernen Provinz im Westen der Habsburgermonarchie aufzubauen, war schwierig, vor allem dann, wenn Kritik an den vorherrschenden konservativen Strukturen und Vorstellungswelten geübt wurde.
Die Darstellung „weibliche Nacktheit“ war besonders verpönt, sie gefährdete angeblich „Sitte und Moral“. Solche Bilder wurden aus den wenigen Kunstausstellungen verbannt – auch aus der ersten „Gewerblichen Vorarlberger Landesausstellung“ (1887). Jene Künstler, die in Vorarlberg ausgestellt werden wollten, hatten „naturgemäß dem züchtigen Geiste des braven Volkes Rechnung“ zu tragen.
Gefahr kam von „außen“, zum Beispiel aus der Kaiser-Residenzstadt Wien, dort, wo auch die „jüdischen Sudelfinken“ verortet wurden (S. 175). Erst bei der Ausstellung des „Bundes Vorarlberger Maler und Bildhauer“ im Jahr 1919 stieß Wanner in der Kunstwelt auf einen „Hauch von Revolution“ (S. 285 ff.): Das Werbe-Plakat zeigte einen nackten, metaphorischen Engel von Bartle Kleber, und Stephanie Hollenstein wurde vom deutschnationalen Chefredakteur Hans Nägele gelobt.

Zu liberal für das konservative Vorarlberg

Wanner konnte in den von ihm benutzten Zeitungsquellen rund 80 Künstlerexistenzen ausfindig machen. Darunter auch jene von Hermann Mayer (1849–1912), der im Land wenig Aufträge erhielt: In Rom geschult, bewahrte er seinen „heidnischen Klassizismus“ und schuf für den Park des liberalen Feldkircher Bürgermeisters, Ritter von Tschavoll, Marmorstatuen, die im katholisch-konservativen Lager auf Ablehnung stießen. Einige Künstler waren im 19. Jahrhundert bekannt und machten beachtliche Karrieren: Neben Gebhard Flatz (1800–1881), der zu einem Hauptvertreter des frömmelnden Nazarener-Stils avancierte, auch Konrad Dorner aus Hittisau (gest. 1866 in Rom). Er hatte – wie andere auch – an der Kunstakademie in München studiert und brachte es am Zarenhof in St. Petersburg zum Hofmaler. Bisher fast unbekannt geblieben ist Johann Baptist Feßler (1803–1875), der in Wien das fürstlich-liechtensteinische Palais umgestaltete.

Breit angelegte Kunst-Untersuchung

Wanner legt seine Kunst-Untersuchung breit an: Er befasst sich mit den (akademischen) Bildungsmöglichkeiten, widmet sich dem Zeichen- und kunstgewerblichen Unterricht, skizziert die kurzlebigen Fachzeichenschulen in Feldkirch, untersucht den ökonomischen Hintergrund, die Künstlerateliers, die Landes- und Kunstausstellungen und vieles mehr. Er wirft einen Blick auf die damalige Kunstkritik und die sich daraus ergebenden Konflikte, stellt die katholischen Kunstvereine vor und listet die Kirchenbauten und -renovierungen auf, behandelt Baumeister, Architekten und die Industriebauten, stellt die Friedhöfe und ihre Skulpturen vor, beleuchtet die ideologischen Konflikte um die „Helden“-Kriegerdenkmäler und die Mythen zur Landesidentität – eine Fundgrube für weiteres Forschen.
Verdienstvoll ist das Kapitel über „Frauen und Kunst“. Sie waren von den Akademien ausgeschlossen und in ein enges Rollenkorsett eingezwängt. Nur wenige Frauen nahmen aktiv am Kunstgeschehen teil: „Es waren dies die aus dem bäuerlichen Milieu stammende und im Ausland erfolgreich tätige Bildhauerin Maria Felder(…) und die adelige ‚Ausländerin‘ Adele Fairholm, unter einem Pseudonym die Malerin und Gattin des Dornbirner Fabrikanten Hämmerle und bislang unbekannt, die aus Feldkirch stammende Porträtmalerin Regina Nesensohn“. (S. 294) Letztere stellt Hansjörg Rabanser eigens vor. Und natürlich fehlt in diesem Rheticus-Band auch Angelika Kauffmann nicht: In seinem zweiten Beitrag befasst sich Wanner mit ihrer Rezeptionsgeschichte und bietet dabei durchaus Neues.
Fünf Beiträge stammen aus der Feder von Christoph Volaucnik. Auf Basis der Forschungen von Christoph Vallaster (gest. 2002) erweitert der Feldkircher Stadtarchivar das Wissen über die „Feldkircher Künstler 1768–1918“. Eine Medienanalyse beleuchtet die Feldkircher „Künstler, Bauwerke und Denkmäler“. Außerdem stellt er den Lithographen Bosch vor und zeichnet die Entwicklung der Fotografie in Feldkirch nach. Martin Bitschnau untersucht die lithographische Anstalt Buschauer, Manfred A. Getzner, die Goldschmiedefamilie Clessin. Das Vorwort steuert Johannes Spies bei.

Der lange Atem des konservativen Geistes

Nur einige Kritikpunkte und Hinweise: Die „Wiedererweckung der christlichen Kunst“ wird im „Volksblatt“ am 17. 9. 1869 besprochen, nicht am 17. 9. 1969, wie auf S. 153 zu lesen. Auf S. 311 ist Angelika Kauffmann 15-jährig, als sie zum ersten Mal nach Schwarzenberg kommt, auf S. 323 jedoch 16 Jahre alt. Heißt es nun Güllische oder Gülische Villa (S. 205)? Solche Schludrigkeiten sollten vermieden werden.
Und trotz der Materialfülle: Es fehlt die Beschreibung des Altarbilds im Dornbirner Kapuzinerkloster, gestiftet vom konservativen Landeshauptmann und Industriellen Adolf Rhomberg (LH von 1890–1918). In Leo Haffners „Kasiner“ (1977) heißt es dazu: „Die Verknüpfung von politischen und kirchlichen Zielen wird durch das Altarbild im Kapuzinerkloster Dornbirn (Entwurf Pernlochner, Thaur) in wohl einzigartiger Weise dokumentiert.“ Auf dem Bild rettet der hl. Josef einen Arbeiter vor der verderblichen Sozialdemokratie. Es versinnbildlicht die Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII., in der die katholische Kirche zur „sozialen Frage“ endlich Stellung bezieht (1891).
Wanner verwendet Rezensionen vom „Kunstkritiker“ Adolf Helbok, in denen das deutsch-nationale Frauenbild sichtbar wird. Hier sollte dieser „Kunstkritiker“ für die Leserschaft doch etwas näher beleuchtet werden. Der Wikipedia-Eintrag zu ihm: Adolf Helbok (1883–1968) „war ein österreichischer Historiker und Volkskundler und nationalsozialistischer Rassenkundler, der 1933 erstmals die völkische Blutsgemeinschaft als Subjekt der Geschichte definierte.“ Helboks Optimismus, dass auch „in Vorarlberg der Kunstsinn mit der Zeit einkehren werde“, stammt im Übrigen vom 3. 6. 1916, nicht wie irrtümlich angegeben „VLZ, 3. 6. 1816“. Eine Anmerkung zeigt allerdings, wie lange der Geist des 19. Jahrhunderts in diesem Land weiterwirkte: 1974 fand im Palais Liechtenstein die erste Ausstellung von Vorarlberger Künstlern zum Thema „Der Akt in der modernen Kunst“ statt. Die Zensur griff ein, „gewisse“ Bilder mussten entfernt werden (VN, 31. 10. 1974). Das war unter ÖVP-Landeshauptmann Herbert Kessler (1964–1987) noch möglich.

Gerhard Wanner: Beiträge zur Kunstgeschichte Vorarlbergs,
Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 85,
Feldkirch 2021, 512 Seiten, ISBN-13: 978-3902601605, € 25