Wienführer für Fortgeschrittene
„Wien ist die denkmöglich kleinste Weltstadt, die von Punk bis Klassik, von S/M bis Abstinenzlergruppen und von Dutzenden Religionen bis zu hunderten Modeströmungen alles eben ,ein bissi’ zu bieten hat. Größere Millionenstädte haben für jedes erdenkliche Bedürfnis mehrere oder viele Locations, kleinere Städte dafür oft gar keine. In Wien dagegen findet sich alles, was man sich wünschen kann, zumindest einmal irgendwo.“ (Harald Havas, s. u.)
Stadtführer gibt es wie Sand am Meer, und über Wien vielleicht noch mehr als über andere Städte vergleichbarer Größe. Die meisten zählen aber jene Sehenswürdigkeiten auf, die nur der Gast aus Japan oder China noch nicht satt hat, und schicken die Deutschen zum „Figlmüller“ Schnitzel essen, ins Bestattungsmuseum oder zum Friedhof der Namenlosen, der allmählich bekannter als der Zentralfriedhof geworden sein dürfte. Es gibt aber auch wirklich alternative Wienführer sowie Bücher, die entweder über bekannte Wiener Orte etwas nicht allgemein Bekanntes wissen oder sich von vornherein dem eher Abseitigen widmen.
Noch ziemlich konventionell ist das Location Book von Martina Schettina im Bohmann Verlag, Untertitel: „Genuss, Kultur und Lifestyle: Wiens Grätzl mit Prominenten entdeckt“. In dem Buch, von dem es auch eine englische Version und eine App fürs Handy gibt, werden zehn Grätzl, definiert als „urbanes Gebiet, das durch ein spezielles Lebensgefühl seiner Bewohner charakterisiert ist“, von Promis wie dem Kabarettisten Bernhard Ludwig (Spittelberg), dem Künstler Daniel Spoerri (Naschmarkt), dem Galeristen Ernst Hilger (Museumsviertel) oder der Museumsdirektorin Danielle Spera (Bermudadreieck) vorgestellt. Gut gefallen die allerdings teilweise etwas abgekürzten 3-D-Darstellungen der Straßenverläufe des Illustrators Andreas Rampitsch, während die Fotos von Lukas Beck genregemäß ein eher touristisches Wien zeigen.
Detailverliebt
Nur in Wien von Duncan J. D. Smith (Brandstätter) ist in einer „Nur in ...“ (München, Zürich)-Reihe erschienen. Smith ist Reiseschriftsteller, „Urban Explorer“, Fotograf und Fellow der Royal Geographical Society, und man kann ausnahmsweise einmal einen Klappentext zustimmend zitieren: „Er präsentiert das Wien der versteckten Höfe, geheimen Keller und vergessenen Friedhöfe, Klimts letztes Atelier, die Heilige Lanze und das Geheimnis des Traums, Harry Lime und die Ritter aus der Blutgasse.“ Klar, der Friedhof der Namenlosen ist auch drinnen, und der Prater und die Strudlhofstiege, aber hätten Sie gewusst, wo sich das Grab Antonio Vivaldis befindet oder dass die Büchereien am Urban-Loritz-Platz ein grandioser Aussichtpunkt sind?
Drei Bücher von Harald Havas mit den Titeln Kurioses Wien, Furioses Wien und Unglaubliches Wien (Metroverlag) gehen schon viel mehr ins Detail, in manchen Kapiteln vielleicht sogar allzu sehr, jedenfalls für nicht-pedantische Nicht-Wiener, die nicht ganz genau wissen wollen, was das „Bundesgesetz über die Auflassung und Übertragung von Bundesstraßen“ für das Wiener Straßennetz bedeutet hat. Damit aber kein falscher Eindruck entsteht, sei mit Nachdruck gesagt, dass 90 Prozent des Inhalts der drei Bücher eine hochinteressante Lektüre sind. Meist auch eine amüsante.
Zum Beispiel wird die Grabinschrift des Schriftstellers Ignaz Castelli (der übrigens auch einmal Bregenz und den Gebhardsberg besucht hat) zitiert: „Hier liegt der Epigrammenschreiber / Der über Ärzt’ und über Weiber / Im Leben immer losgezogen / Sie rächen sich an ihm darum: / Sein Weib hat ihn betrogen, / Sein Doktor bracht’ ihn um.“ Noch konziser ist die Inschrift auf Ferdinand Sauters Grabstein am Hernalser Friedhof: „Viel genossen, viel gelitten / Und das Glück lag in der Mitten. / Viel empfunden, nichts erworben, / Froh gelebt und leicht gestorben. / Frag nicht nach der Zahl der Jahre – / Kein Kalender ist die Bahre / Und der Mensch im Leichentuch / Bleibt ein zugeklapptes Buch. / Deshalb, Wandrer, ziehe weiter / Denn Verwesung stimmt nicht heiter.“
Falter-Kolumnen
Der Titel Von der Paniglgasse zur Pinaglgasse (Löcker) spart den Umweg im Buch über die Panikengasse aus, deutet aber schon an, dass die Autoren Beppo Beyerl und Rudi Hieblinger eher unsystematisch vorgegangen sind bei ihrer „Abschweifung vom Bobo- ins Prolo-Wien“ (Untertitel). Klar, dass sie auf ihrer Wanderung das Lokal „Enrico Panigl“ in der Josefstädter Straße 91 nicht ausgespart haben. Die Panigl-Gasse ist aber nicht nach dem Triestiner Weinhändler Enrico P., sondern nach einem Altwiener Bürgergeschlecht benannt. Die Pinaglgasse in Meidling hingegen ist „eine Hundescheißzone mit nur einem Haus, das ausgerechnet die Nummer drei trägt“.
Das handliche Taschenbüchlein Das staubige Tier (Falter Verlag 2007) von Tex Rubinowitz versammelt Kolumnen aus seiner Falter-Serie „Rubinowien“, in der er Orte und Plätze der Stadt beschreibt, „die allgemein wenig wahrgenommen werden, weil sie einfach ,nur da’ sind“ (Klappentext). Das im Titel genannte staubige Tier beispielsweise ist ein Plüschtausendfüßler, der in Emad Koltas Zeitschriftenhandlung in der unterirdischen Passage zwischen Oper und Karlsplatz von der Decke hängt. „Es gibt ihn schon seit 18 Jahren, er wurde erst vier Mal gewaschen; einmal haben Kolta und sein Kompagnon ihn von Profis reinigen lassen, das kostete dann aberwitzige 3400 Schillinge (,nicht jede Reinigung nimmt Tausendfüßler’), ein anderes Mal hat das Tier der Kollege im Garten selber gewaschen.“
Amüsante Wiener Anekdoten
Das folgende Buch ist kein Wien-Führer – auch kein alternativer –, enthält aber interessante Details zu Wiener Locations und Personen. Hans-Georg Behrs Fast ein Nomade (Zsolnay 2009) ist nach „Fast eine Kindheit“ (2002) der zweite Band seiner Lebenserinnerungen. Behr beginnt mit seiner Flucht aus der Klosterschule an seinem 14. Geburtstag, erzählt von den Lebensumständen des Knaben in Wien Anfang der 1950er-Jahre, wo er in einem Heizungskeller der Kunstakademie Unterschlupf findet und bald ein paar junge Künstler kennen lernt, die später bekannt werden (Fuchs, Hundertwasser), schildert später seine Eindrücke aus Persien und Afghanistan, wohin sein Großvater noch Verbindungen zu einigen älteren Militärs aus der ehemaligen Oberschicht hatte, und kehrt dann wieder nach Wien zurück. Was diese Stadt betrifft, erfährt man einiges über den Artclub, das Café Hawelka, das Café Sport und einige andere Beisel, die es zum Teil nicht mehr gibt, sowie über eine Hütte mit trapezförmigem Umriss hinter der Kirche Am Hof, die Behr eine Zeitlang bewohnte.
Er erzählt auch eine Reihe von amüsanten Wiener Anekdoten, zum Beispiel im Zusammenhang mit Fritz Kortner: „Gudrun aber konnte ihn nicht leiden. Sie hielt ihn seiner Genauigkeit wegen für pedantisch und mochte auch nicht seine pechschwarzen Witze über die Wiener Nazis. Die mochte auch nicht Herr Weigel, Wiens Großkritiker, den man immer an seinen zwei Brillen auf der Nase erkannte und der Wert darauf legte, dass man wusste, wann er in welchem Café residierte. So fand ihn einmal auch die Frau Kammerschauspielerin Käthe Dorsch, eine Knattertragödin der ganz alten Schule, und ohrfeigte ihn gründlich. Da sie dazu noch ein paar saftige Nazisprüche von sich gab, freute sich ganz Wien, doch Herr Weigel wollte geliebt werden, obwohl er Jude war, und machte deshalb gemeine Witze über Herrn Kortner, nur weil sich die meisten Wiener darüber freuten. Es war ja für die meisten Wiener ein Muss, ihn nicht leiden zu können, einfach zwanghaft.“