Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Markus Barnay · 20. Feb 2019 · Literatur

Von St. Eins bis Sattaas - Neue Dorfchronik Satteins

Es gehört längst zum guten Ton, dass eine Gemeinde, die sich ihrer selbst vergewissern will und die ihren EinwohnerInnen ein Verständnis für die Entwicklung der Gemeinde und für den Wert des Zusammenhalts vermitteln will, eine Dorfchronik in Auftrag gibt. Früher waren das Chroniken, die hauptsächlich von Dorfhonoratioren und kirchlichen Eigenheiten berichteten und die – vor allem in den Jahrzehnten nach 1945 – sehr wenig davon wussten, was sich zwischen 1934 und 1945, in den Jahren der Diktaturen von Christlichsozialen und Nationalsozialisten, in der eigenen Gemeinde abspielte.

Viele Gemeindechroniken, die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen, sehen anders aus: wissenschaftlich fundiert, ohne große Tabus, oft gut gestaltet und ebenso gut lesbar. Die neue Dorfchronik von Satteins, organisiert von Robert Häusle und herausgegeben von Peter Erhart, dem in Satteins aufgewachsenen Stiftsarchivar von St. Gallen, gehört zu diesen positiven Erscheinungen im Feld der lokalgeschichtlichen Überblicksdarstellungen. Sie enthält interessante Beiträge von 25 AutorInnen, ist übersichtlich gestaltet und umfassend illustriert – und bietet LeserInnen von außerhalb ebenso ansprechenden Lesestoff wie den BewohnerInnen der Gemeinde selbst.

Unbedeutende Gemeinde, bedeutende Auswanderer

Das Gemeindegebiet von Satteins gehört zu den ältesten Siedlungsräumen im Gebiet des heutigen Landes Vorarlberg, wurde offensichtlich seit der Bronzezeit (ca. 1800 v. Chr.) durchgehend bewohnt und spielt vor allem deshalb eine Rolle für die überregionale Geschichte, weil zahlreiche Menschen, die in Satteins aufwuchsen, andernorts bedeutsame Spuren hinterließen. Die Gemeinde selbst blieb nämlich – abgesehen von ihrer begünstigten Lage als Wohnort – eher unbedeutend: Man lebte von Viehwirtschaft und Flachsanbau, beherbergte einige Handwerker und eine beachtliche Zahl von Gasthöfen, was der Lage im Schnittpunkt verschiedener Verkehrswege zu verdanken war. Der einzige größere Industriebetrieb im 19. Jahrhundert war die von einem Textilfabrikanten aus dem schweizerischen Glarus gegründete Firma Elmer & Co., und auch die Zahl der Stickereibetriebe blieb vergleichsweise klein.
Dafür machten die Satteinser anderswo von sich reden: Viele gingen in Feldkirch ans Gymnasium und später nach Brixen, Innsbruck oder in andere Städte zum Studium. Schon im 19. Jahrhundert stammten aus Satteins mehr Akademiker als aus anderen vergleichbaren Landgemeinden – und das, obwohl in der Gemeinde selbst die bäuerliche Mehrheit alle Fortschritte in der schulischen Bildung zu blockieren versuchte. Selbst die Elektrifizierung des Schulhauses wurde noch 1924 (!) von der christlichsozialen Mehrheit im Gemeindeausschuss abgelehnt – und musste von der Behörde per Erlass durchgesetzt werden.

Berühmte Namen: Getzner, Tschavoll, Häusle und Malin

Jedenfalls brachte Satteins eine Reihe berühmter Persönlichkeiten hervor, die in der Ortschronik entsprechend gewürdigt und in einzelnen Porträts vorgestellt werden: Der Industriepionier Christian Getzner gründete die Textilfirma Getzner, Mutter und Cie. mit Produktionsstätten in Feldkirch, Frastanz, Nenzing, Bürs und Bludenz. Seine Neffen Josef Getzner und Andreas Tschavoll führten den Betrieb weiter, Tschavolls Sohn Josef Andreas Ritter von Tschavoll wurde neben seiner Tätigkeit im Familienbetrieb Bürgermeister von Feldkirch und war Mitbegründer von landwirtschaftlichen Vereinen, des Alpenvereins und des Roten Kreuzes in Vorarlberg. Zu den bekannten Satteinsern zählen auch der Maler Martin Häusle, der Nähmaschinenhändler Magnus Malin und der Widerstandskämpfer Johann August Malin, an den man sich in Satteins allerdings lange nicht erinnern wollte, weil er schon vor seinen Aktivitäten, die ihn während der NS-Zeit das Leben kosteten, als „Sonderling“ galt. Überregional weniger bekannt sind Menschen wie der Chemiker Josef Weber oder der Stickereifabrikant und Erbauer des Elektrizitätswerks, Daniel Metzler.
Durchaus originell ist die Legende über die Entstehung des Namens Satteins: Der Apostel Petrus sei einst nach der Missionierung von Rankweil dorthin weitergezogen, um auch „denen selben groben Völckher den christlichen Glauben zu predigen und sie von der Abgöterey abzubringen“. Nach seiner Rückkehr sei er gefragt worden, wie viele Leute er denn bekehrt habe. Die Antwort: „ains“. Zusatz in der Ortschronik aus dem 18. Jahrhundert: „Daher hat dass Orth den Namen Satains“. Jedenfalls wurde der Ort in der frühen Neuzeit häufig als „St. Eins“ oder „Santeins“ bezeichnet, als hätte es einen Heiligen mit dem Namen Eins gegeben ... 

Ein Buch für stabile Regale

Neben den Beiträgen über die verschiedenen Epochen der Satteinser Geschichte und über die erfolgreichen Auswanderer finden sich in der Ortschronik noch eine Menge Informationen, die vor allem für die Ortsbevölkerung selbst von Interesse sind: Tabellen mit Flur- und Familiennamen, Chroniken aller Kriegsteilnehmer samt deren Schicksal, schließlich Aufzählungen sämtlicher Geistlicher, Barmherziger Schwestern, Schulleiter und Gemeindeärzte, Bürgermeister und Hebammen, die jemals in Satteins gewirkt haben – jedenfalls soweit ihre Namen in den Archiven herauszufinden waren. Dazu kommt die Aufzählung sämtlicher Gasthäuser, aller Vereine und eine Abhandlung über die örtliche Mundart, in der Satteins ja bekanntlich „Sattaas“ heißt.
Schade nur, dass in einem Werk von 530 Seiten Umfang offenbar kein Platz für ein Verzeichnis der AutorInnen blieb, aus dem man etwas über die VerfasserInnen der verschiedenen Beiträge erfahren könnte. Unter denen befinden sich ja eine Reihe bekannter Autoren und Wissenschafter – Manfred Tschaikner, Markus Schmidgall, Meinrad Pichler, Werner Vogt, Georg Friebe, Raimund Rhomberg und Christoph Volaucnik seien beispielhaft genannt –, aber eben auch solche, über die man gerne mehr wissen würde. Ansonsten handelt es sich aber um ein opulentes, aufwändig gestaltetes und gewichtiges Buch, das wohl in jedem Satteinser Haushalt stehen sollte – vorausgesetzt, er verfügt über Regale, die stabil genug sind, um es zu tragen.

Markus Barnay ist Redakteur des ORF-Landesstudios Vorarlberg

Peter Erhart (Hg.), Satteins. Ein Walgaudorf erzählt seine Geschichte. Satteins 2018, 528 Seiten, ISBN 978-3-95976-187-1, € 49