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Florian Gucher · 17. Jun 2022 · Literatur

Von der Notwendigkeit des Erzählens - zum neuen Roman „43‘586“ von Ralf Schlatter

Ein Altersheim als Frohburg und mittendrin eine im Sterben liegende Patientin, die geschichtenhörend dem eigenen Tod Schritt für Schritt oder besser gesagt Erzählung um Erzählung näher rückt. Konzipiert als zeitgenössischer Decamerone, beginnt „43‘586“ über mehrere Instanzen gehend absurderweise als Gedankengespinst eines Mannes, der sich im Traum mit fünf Mitgesell:innen auf eine einsame Insel begibt und dort mit dem Erzählen einer Geschichte beginnt. Von einer Sterbenden, die am Totenbett vorgeführt bekommt, was es bedeutet, zu leben. In Ralf Schlatters neuem Werk wird über Banales gescherzt, über Absurdes gelacht, über Skurriles gewundert und vor allem eines: erzählt, bis buchstäblich der Atem erlischt

Mit dem Tod im Nacken nimmt das Leben erst richtig Fahrt auf. Zumindest scheint dies auf den Erzählband „43‘586“ von Ralf Schlatter zuzutreffen. Protagonistin Paula nützt die ihr verbleibenden sieben Tage, um nach dem Zufallsprinzip elf flüchtige Bekanntschaften zu sich ins Altersheim zu zitieren, welche dann im Eiltempo und dennoch bedacht und ruhig erzählend den Kampf gegen die Zeit auf sich nehmen, den Tod stets vor Augen und zeitgleich brennende Sehnsüchte und sich allmählich entspinnende Liebeskonstellationen im Herzen. So banal die Geschichten auch sein mögen, so vielsagend bringen sie den Sinn des Lebens auf den Punkt, darin bestehend, den Moment zu erkennen und zu genießen. Vieles im 208 Seiten umfassenden Band mutet wie ein Parforceritt durch Raum und Zeit an, mit dem Wissen im Hinterkopf, dass es von jetzt auf gleich vorbei sein könnte. So geht es Schlag auf Schlag, bleibt kaum Gelegenheit Luft zu holen, wenn die Zeit drängt. Das alles mit einer gewissen Dringlichkeit im Gedächtnis, das Leben zu feiern und bis aufs Äußerste auszukosten und bereichert mit der lebenserhaltenden Notwendigkeit des Erzählens im Gepäck: „Die Welt lässt sich nur begreifen, wenn wir sie uns gegenseitig erzählen“, so Schlatter.

Der Wert des Banalen

Ausgehend vom Trott des Alltags, schlägt Schlatter in vielen der Erzählungen des Buches die Kurve hin zu magischen Sphären: „Das Spiel zwischen Realität und Fantasie hat es mir angetan. Hier hat mich der magische Realismus Spaniens und Südamerikas geprägt“, schwärmt Schlatter. Sowie sich einzelne Protagonist:innen in der Fantasie verheddern, nicht mehr von ihr loskommen, ihr nahezu unterworfen sind, kommen sie der Freiheit ein Stück näher. Wobei es die poetische Bildsprache ist, die selbst Naheliegendes exotisch und traumhaft macht. Eine Frau beispielsweise, die sich vor lauter Sehnsucht nach dem Meer einen Leuchtturm im Garten baut, ihn besteigt und von der Spitze hinaus auf die Weite des Meeres blickt, im Schweizer Alpenland wohlgemerkt. Oder ein Mann, der den Traum von seinem eigenen Tod für bare Münze hält und gedankenversunken mit all seinem Vermögen seinen letzten Tag auf Erden plant. Mit Feingefühl und fast unbemerkt daherkommend, sucht der Schweizer Schriftsteller Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum auf und lotet sie bedingungslos aus: „Vieles im Buch mutet real an und kann sich 1:1 so ereignen, wird jedoch mit einem Zauber als weitere Ebene bereichert.“ Zeitgleich sind es Geschichten, die zu denken geben. Wie das Leben so spielt, erzählt Schlatter von brisanten wie überraschenden Ereignissen, von Wendungen und Schicksalsschlägen, die allesamt eine Klammer um Leben und Tod heften. Wenn zwei Sandkastenfreunde eingeführt werden, wo einer zum Vermögenden, einer zum Obdachlosen wurde, ein Schicksal getrennt von lediglich kleinen, nah beieinanderliegenden Zufälligkeiten, die jeden und jede auch anders hätte treffen können. Auch wer von den beiden (un)glücklicher ist, lässt sich schwer ausmalen. Vieles im Buch geht ganz nah und trifft uns an wunden Punkten. Der Schweizer Autor nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn er den Tod als Teil des Lebens einführt, oft mit grotesken Szenen verstrickt, demonstrierend, dass er uns nähersteht als man meinen möchte. Doch zeitgleich liest sich das Werk wie eine Hymne an das Leben als Vergegenwärtigung kleiner Alltagssituationen mit großem Wert, die träumerisch ausgleiten und abdriften, sodass sie in anderen Sphären ankommen. Besteht nicht ein Großteil unseres Lebens aus Fantasie und Traum? Ganz in diesem Sinne erzählt er von banalen Situationen, um ihnen etwas Majestätisches zu verleihen, ohne jedoch vom Alltag als Bezugspunkt abweichen zu müssen: „Häufig sind es schlichte Bilder, die ich in meinen Erzählungen male. Weil ich den Leser:innen zeigen will, dass es nicht immer darum geht, Neues zu sehen, sondern Altes, Bekanntes mit neuen Augen zu sehen.“

Der omnipräsente Tod

Die kurzen, aneinandergereihten und von den Mündern der Gäste Paulas wiedergegebenen, aber eigentlich aus der Feder Schlatters entstammenden Erzählungen fügen sich allmählich wie ein Puzzle ineinander und lichten den Blick für die Leser:innen immer stärker, wie sie ein tiefgreifendes Verständnis von Leben und Tod erhalten. Eine Stimmung im Hintergrund schwingt mit, die sagt: Der Tod ist unter uns, kann nicht ausgelöscht werden. So wie es der Autor schafft, auch tristen Szenen eine gewisse Leichtigkeit und Anmut zu verleihen, erhält das Publikum mit jeder Erzählung ein intensiveres Gefühl von der Vergänglichkeit, weil sich die Situation zuspitzt und die Uhr tickt. Wie es generell so ist, dass Schlatter dem Tod in seinem literarischen Schreiben als Themenkreis immer wieder begegnet, ihn geradezu als dramaturgischen Kunstgriff Mal um Mal erneut in Szene setzt: „Der Tod verleiht dem Erzählen schließlich eine dringliche Note, macht es existentiell. Ich bin Anhänger des Gedankens, dass alles auch nur so komisch wie tragisch sein kann“, so der Autor, der auch als Kabarettist tätig ist.

Spielerisch bis ans Ende

Wenngleich von diversen Instanzen im Wechselspiel wiedergegeben, folgen die Geschichten stets dem gleichen Stil und Duktus, ist es doch derselbe Autor, der sie geschrieben hat: „Mit den verschiedenen Erzählstimmen ist das Ganze als Spielerei konzipiert, die auch sofort ersichtlich wird.“ Wobei sich trotz Komplexität im Aufbau das Werk gut ineinanderfügt und wie aus einem Guss wirkt. Da macht auch die unleugbare Hektik des nahen Endes nichts aus, ist „43‘586“ doch mit einer spielerisch-tragenden Leichtigkeit versehen, weiter und weiter treibend, bis dem Autor die Worte ausgehen und er von seinem „Traum“ erwacht.

Ralf Schlatter: 43‘586. Ein Schweizer Decamerone. Limbus Verlag, Innsbruck 2022, 208 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-99039-217-1, € 20

Lesung
3.7., 10.30 Uhr
Bücherladen Häberli, Amriswil

www.ralfschlatter.ch