Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Niedermair · 11. Jul 2022 · Literatur

Melanie Greußing, Buchpräsentation und Lesung „Herz aller liebst“ im Egg Museum

Am 7. Juli 2022 las die Autorin im Rahmen ihrer derzeit im Egg Museum präsentierten Ausstellung „früher oder später" aus ihrem Buch „Herz aller liebst“. Die Publikation begleitet die Ausstellung im Volkskunde Museum Salzburg. Dort „an diesem einzigartigen Ort des Monatsschlössls in Hellbrunn entwickelt das Gesamtprojekt von Ausstellung und Publikation eine besondere Beziehungsgeschichte zwischen Volkskunde, Kunst- und Kulturgeschichte sowie zeitgenössischer Kunst“. (Martin Hochleitner im Vorwort des Buches)

In einem weiteren Kuratorinnentext schreibt Ernestine Hutter, die Leiterin der Sammlung Volkskunde im Salzburg Museum: „Als Gegenstand, als Geste oder zum Ornament fixiert, gehört das Herz zum Leben des Menschen wie dessen Atem. Das Herz, in welcher Gestalt auch immer, ist unverzichtbare Ausdrucksform für Intimes, seelisches Erleben, Glaube und Identität. Wir formen es ab, essen es, bannen es auf Papier, drucken es auf Stoff, stechen es in Holz.“ (Herz aller liebst, Seite 11) Und die Autorin selbst schreibt auf Seite 17: „Suche ich nach Herzen, dann gewöhnlich dort, wo Menschen sind. Menschen gilt es aktuell zu meiden (wie absurd das nach wie vor klingt). Gut, dass ich nach Herzen in der zeitgenössischen Kunst gesucht habe. Diese Suche hat mich – wenn auch virtuell (wir alle wissen, warum) – in ungeahnt viele Museen, Ausstellungen, Ateliers geführt. Die Suche hat mich finden lassen, was mein Herz bannt. Empfindung versus Intellekt, visuell artikuliert.“ Melanie Greußing entdeckte bei ihren Recherchen viele Assoziationen in der zeitgenössischen Kunst. Es geht in der Ausstellung zentral um Kunst, die noch immer bis 31. Oktober 2022 im Volkskunde Museum Hellbrunn zu sehen ist.

Die Musik von Andreas Paragioudakis

Der aus Kreta stammende und in Bregenz lebende Musikkünstler Andreas Paragioudakis eröffnete den Abend mit einer freien Improvisation auf einer kretischen Lyra. Seine Musik gleich zu Beginn öffnete die Herzen der Besucher:innen; es war, als würde man auf eine Terrasse hinaustreten und die Weite des Himmels bis hin zum Horizont sehen. Im Buch „Herz aller liebst“ erzählt Melanie Greußing von ihrem Leben, von ihrer Zeit an der Kunst Uni in Linz, wo sie studierte und lehrte; danach wurde sie ans Salzburg Museum berufen, wo sie mit dem Direktor des Museums Martin Hochleitner gemeinsam arbeitete und als Kuratorin verantwortlich für die Ausstellung war. Herz, wie gesagt, war das Thema, das in ihrer Arbeit an sich sehr präsent sei. Der erste Text erzählt, wie es dort begonnen hat.
Anatomisch gesehen ist das Herz der Motor des Lebens. Mit den von Melanie Greußing aufgezählten Künstlerinnen werden unterschiedliche Zugänge zum Thema formuliert, u.a. von Renate Bertlmann, oder die poppig bunten Herzen von Niki de Saint Phalle. „Ihre lebensfrohen Nanas tragen sie meist auf einer ihrer Brustknospen (…), sie platziert sie prominent als Springbrunnen in Paris (u.a. vor dem Centre Pompidou, Anm.), macht sie zu Protagonisten ihrer Druckgrafiken, arrangiert verschiedene Objekte zu morbid anmutenden Reliefherzen oder bearbeitet sie grafisch in unglaublich dichter Weise.“ (Herz aller liebst, Seite 19)

the love bridge

Im Buch selbst gibt es keine direkten Werkbeschreibungen, nur ausgewählte Texte, die einen Spannungsbogen ziehen, Konträres und Kohärentes ausloten, „mein Herz brennt, und auch ihres läuft Gefahr zu entbrennen“.
Im nächsten Musikstück, wiederum eine freie Improvisation, zaubert der kretische Musiker auf gezupften Saiten, die Tonleitern des Herzens hinauf und in alle Himmelsrichtungen, mit Echoloten in die Nacht geschickt, bis hinauf zu den Sternen, zart, melodisch, rhythmisch wiederholend. Zunächst auf Griechisch, danach auf Deutsch, vermittelt der Musikkünstler auch über seine Singstimme das Lied des Herzens „wenn ich ein Herz suche, such ich da, wo die Menschen sind“. Melanie Greußing präsentiert in der Folge Impressionen aus der Ausstellung, wählt einzelne Positionen aus, gliedert in vier Themenbereiche, Körper, Liebe, Glaube und Symbol und setzt diese mit zeitgenössischer Kunst in einen Dialog. Für den Bereich Glaube wählt sie Darstellungen von Karin Mack, Jesus und Maria, die beide ihr Herz vor der Brust tragen, während beide Herzen flammen, Marias Herz ist von einem Schwert durchstoßen, Rosen und Lilien wachsen aus ihm heraus. Mit der zweiten Hand, wie wir es in der Ikonographie solcher Darstellungen kennen, die in elterlichen Schlafzimmer auch über dem Bett hängen, zeigen beide nach außen, hin zu den Betrachter:innen. Damit erzeugt Karin Mack eine gewisse Irritation über das Symbol gebende Spiel mit der Identität, mit der sie auch Geschlechterrollen hinterfragt.

„Herzen wie Efeu entlang des Gemäuers“

Melanie Greußing zeigt in einem nächsten Schritt Rüschen Karin Waltenbergers, wie sie als traditionelle Rüschen entlang des Fensters verschlungen auftauchen, oder in Form von Tütenrüschen als Verzierungen auf Festtagstrachten. Damit zaubert sie über die Bildsprache ein kleines Kopfkino, mit dem sie „Herzen stiehlt“, verworrene Kontrapunkte setzt, ineinander intimverschlungene Körper, in Analogie und Assoziation zu Evas Sinnbild für Vergnügen und Lust. Karin Waltenberger reagiert mit ihrer Arbeit „verschlungen/verworren“ auf Stücke der Sammlung und greift diese in ihrer „Farbigkeit und Materialität“ auf. Die Rüsche wird in Dimension und Textur verfremdet. Sie ist nicht mehr nur Teil einer Tracht, sondern gleichzeitig „ein Element der Architektur. Statt um das Dekolleté einer Frau ranken sich nun die Herzen wie Efeu entlang des Gemäuers.“ Ineinander verschlungene und miteinander verbundene Herzen überwuchern den Türbogen. Die Künstlerin verwendet eine Analogie. „Bereits im antiken Griechenland galt Efeu als Sinnbild für Vergnügen und Lustbarkeit.“
Darauf folgt das nächste Stück Musikpoesie, als gälte es die Dimensionen der Herzenstiefen auszuloten. Die Improvisation klingt wie ein Spaziergang der Herzen drüben am Schweizer Berg, als ginge Robert Walser mit seinem und einem anderen Herzen über die Höhenwege entlang und vor nach Walzenhausen, um von dort auf den Bodensee zu schauen. Mit weiten Armbewegungen und griechischem Gesang scheint der Musikkünstler mit dem Herzen seiner Stimme nach dem Himmel zu langen, und wenn er im letzten Abschnitt pfeift und dabei immer leiser und leiser wird, hören wir dem Gurgeln der Liquids of the Heart zu.

„heart-shaped box”

Zierschachtel versus „The Silence of my heart“ von Renate Bertlmann. Auf einer Abbildung sehen wir Renate Bertlmann im Badezimmer, ein Raum in Weiß, eine abgeschlossene Box, und darüber, auf einem weiteren Bild, ein stabiler weißer Karton, dessen Verschluss als herzförmige Deckelklappen besonders gefertigt ist. Sich im Bad einzuschließen, „dem intimsten Raum, wo wir uns uns selbst widmen“, wo wir mit uns allein sind, zurückgezogen und in Sicherheit … wir alle kennen diese Erfahrung. Das Bild zeigt ein Selbstportrait in deplatzierter Kostümierung, die roten Lippen signalisieren Sinnlichkeit, der Karton ist mit Stickerei verziert und spiegelt insgesamt eine kitschige Ästhetik; Herzen ist Kitsch offensichtlich inhärent. „Beim Anblick der beiden Exponate singt Kurt Cobain in meinem Kopf. Seine Stimme gegen die Stille, die von beiden Objekten ausgeht“, schreibt Renate Bertlmann.

„I want your heart“

Unterwegs in der Stadt, entlang von Wohnhäusern, wie wir sie auf einem Bild von Vildan Turalic sehen, lesen wir die unmissverständliche Aufforderung. „I want your heart“ – in großen pinkfarbenen Lettern. „Die Aufforderung ist unmissverständlich, besitzergreifend, bedrohlich.“ (Vildan Turalic, S. 69) Ein Satz aus dem Zentrum unserer Emotionen. „Ein Herz gilt es sich zu verdienen. Selbst dann kann nicht danach verlangt werden. Herzen werden verschenkt.“ Und es bleibt offen, ob fremde Herzen überhaupt besessen werden können.
Das kann auch der Musiker des Abends auf seinem letzten Stück, einem Daumenklavier, als Musik zum Foto des Herz-Brots und des Löffels nicht wirklich klären. In diesem, wiederum improvisierten Musikstück, hören wir wie in einer Fuge den Herzen zu, die einander in heftigen Schritten folgen, „I want your lips, the red of your heart, so let me eat from the bread of your heart. Then everything is fine for me“, singt der Musiker. Das Herz gleicht hier einem Igel und stellt Verletzlichkeit versus Verletzen zueinander. „Amo ergo sum“ als Leitmotiv, „Ex voto“ formuliert Renate Bertlmann, die als erste Frau den Pavillon in Venedig bespielte. Ein Utopiestrang , eine oben aufgesetzte Plexiglasbox, die Herzform hautfarben. Ein Spiel mit Ironie und Kitsch, eine Kritik am Katholizismus. Das Plexiglas ist gleichzeitig auch ein Schutz vor Aggressionen: „Simultan ist sie dadurch weggesperrt, sie ist sich ihres ketzerischen Potentials bewusst.“
Im nächsten Musikstück, einem kleinen Glockenspiel, zupft der Musikvirtuose wie auf einer Leiter, spaziert hinauf und quer, und schräg „Sue my heart, wipe your tears, hey my brother. If I read the fire in your heart …“ Sehr amüsant, weil triefend vor Ironie ist der Text „zu Herzen“ von Bodo Hell, der auf Seite 96 beginnt, „eine vielleicht halblaut zu betende Litanei zum Anschauungsunterricht, zur Wortbildungslehre und als Assoziationserweiterung, auf dem Weg in die linke Brustseite hinein und wieder aus ihr heraus, mit An- und Auslauf.“ Nach einem solch vergnüglichen Abend kann man sich adäquat eigentlich – wie Bodo empfiehlt – nur ein Schokoladenherz genehmigen, „das auch als Marrons Glacés mit weichem Innenleben im herzförmigen Schokoladeguss angeboten“ wird.) … „von ganzem Herzen heißt auf Japanisch dann: kokora kara“ …

Herz aller liebst, hrsg. von Melanie Greußing für das Salzburg Museum. Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2021, Hardcover, 144 Seiten, ISBN: 9783701735501, Euro 12,90

www.eggmuseum.at
www.melanie-greuszing.at