Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Annette Raschner · 26. Sep 2021 · Literatur

„Uns verbindet ein gewisser unkontrollierter Schlingerkurs“

Die Autorin Monika Helfer und der Künstler Christoph Abbrederis kennen einander seit Jahrzehnten. Immer wieder haben sich ihre Wege gekreuzt, bis jetzt - zum allerersten Mal - ein gemeinsames Kinderbuch entstanden ist: „Dickerle“, erschienen im leykam Verlag.

Eigentlich hätte es ein Gespräch über letzte mögliche Korrekturen werden sollen. Aber ein solches war gar nicht nötig. Monika Helfer und Christoph Abbrederis waren sich einig: Es muss und darf nichts mehr geändert werden. Doch wie ist der Stein eigentlich ins Rollen gekommen?
Monika Helfer: Ich bin oft in Wien. Dort ist mir aufgefallen, dass es besonders viele dicke Kinder gibt. Einmal habe ich ein Mädchen beobachtet, dass so dick war, dass es sich beim Gehen schwergetan hat. Da habe ich mir gedacht: Über so ein Kind möchte ich schreiben! Manchmal sieht man Jemanden und denkt sich eine Geschichte zu der Person aus. So war das auch bei diesem kleinen Mädchen.
Annette Raschner: Wie weit reicht eure Zusammenarbeit zurück?
Christoph Abbrederis: Sehr weit. Es gibt ganze Schubladen voll mit angedachten, halbfertigen Projekten. Mit „Dickerle“ holen wir nun auf!

Schlankheitswahn von Frauen um die Vierzig

In „Dickerle“ erzählt die Autorin von einem adipösen Mädchen, das mit seiner auffallend schlanken Mutter zusammenlebt und beschließt, abzunehmen. Denn der erste Schultag steht an.
Helfer: Frauen um die vierzig haben ja oft einen Schlankheitswahn. Jedenfalls beschließt das Mädchen, sich der Mutter gewichtsmäßig anzunähern. Doch während sie schlanker wird, wird die Mutter immer dicker. Am Ende sehen die beiden ziemlich normal aus.
Abbrederis: Auffallend an der Geschichte ist die eigenwillige, rein weibliche Gesinnungsgemeinschaft. Das hat mich als Zeichner sehr gereizt, und ich habe mir die Freiheit genommen, ein eigenes Universum zu schaffen, bei dem die von Monika erwähnte Katze die Beobachterposition einnimmt.

Dass zwischen den beiden ein blindes Vertrauen herrscht, ist augenfällig. Monika Helfer betont, dass die Zeichnungen aus ihrer Hauptfigur, dem kleinen Mädchen, einen richtigen Typ gemacht haben.
Helfer: In einer Kindergeschichte brauchst du einen solchen Typ. Dieser kann wandelbar sein, aber letztlich muss er immer der sein, der er ist.

Raschner: Was für ein Mädchen ist das Dickerle?
Helfer: Ein sehr starkes Mädchen, das gar nicht einsieht, warum es ein Problem sein sollte, dick zu sein. Aber dann kommt die Schule dazwischen.
Abbrederis: Das Schöne an den Geschichten von Monika ist für mich, dass Fakten immer nur angedeutet werden. Die eigentliche Handlung spielt sich zwischen Mutter und Tochter ab, die anderen Figuren sind Zugaben. Und der prägnanteste Charakter ist das Mädchen.
Helfer: Die Mutter ist berufstätig und möchte sich nicht einmischen. Aber sie unterstützt ihre Tochter, weil sie merkt, dass es ihr wichtig ist, dünner zu werden.

 Leseprobe
„Nirgends war Olivia nicht dick. Sie tapste leise zum Kleiderschrank ihrer Mutter und wühlte in den T-Shirts. Da gab es schicke Exemplare, sogar solche mit Goldfäden. Olivia legte drei Stück auf dem Boden aus. Die Katze marschierte wieder darüber. Ein T-Shirt gefiel Olivia besonders gut. Auf der Brust war ein aufgedrucktes Herz, das rundherum einen Strahlenkranz hatte. Das probierte sie an. Es war ihr zu eng. Sie hatte es schon vorher gewusst. Es war ihr viel zu eng! Manchmal hatte ihre Mutter ein T-Shirt von Olivia angezogen. Ein altes. Zum Putzen hatte sie es angezogen. Es war ihr zu weit. Viel zu weit!“

Während unseres Gesprächs nimmt eine Katze auf dem Holztisch der Terrasse Platz. Auch sie scheint uns zu beobachten. Christoph Abbrederis zeigt seine großformatigen Zeichnungen, die er mit großer Sorgfalt in und um den Text gesetzt hat. Das „Dickerle“ ist ein rothaariges Mädchen mit sympathischen Pausbacken.
Abbrederis: Es handelt sich ja nicht um ein Kinderbuch im klassischen Sinne, wo die Charaktere meist stark vereinfacht sind. Hier ist der Zustand schwebend, die Atmosphäre präzise gezeichnet, und ich habe das als Einladung gesehen, den Text nicht zu illustrieren, sondern eine eigene Parallelwelt zu kreieren.
Helfer: Genau das mag ich. Einen reinen Kommentar zu einer Geschichte finde ich uninteressant.

Eine liebevolle Verwahrlosung ist das Beste in der Erziehung

In allen Büchern von Monika Helfer fällt wohltuend auf, dass sie Kinder und Jugendliche ernst nimmt. Es seien einfach kleine Menschen für sie.

Helfer: Ich habe es immer gehasst, wenn man Kinder verniedlicht hat. Das ist doch unter der Kinderwürde! Mit Kindern sollte man normal sprechen. Auch die ständige Einmischung der Erwachsenen ist furchtbar. Ich bin der Meinung, dass für ein Kind eine liebevolle Verwahrlosung das Beste in der Erziehung ist. Wenn man Kindern viel zutraut, merkt man plötzlich, wie vernünftig sie sind.
Abbrederis: Es gibt diesen schönen Stimmungswandel in der Geschichte. Die Mutter ist solidarisch mit dem Mädchen, aber nicht im pädagogischen Sinne. Die beiden unterstützen sich gegenseitig.
Helfer: Ich bin gegen lehrreiche Geschichten. Das Ganze funktioniert auch nur, weil es sehr komisch ist!

Der Wunsch, eine Geschichte für Kinder zu schreiben, komme spontan, sagt die in Hohenems lebende Schriftstellerin. Sie mache das immer mal wieder gerne, es sei aber alles andere als leicht. Ähnlich verhalte es sich beim Zeichnen, sagt Christoph Abbrederis.
Abbrederis: Für Kinder zu zeichnen, ist eine der schwierigsten Dinge überhaupt. Gerade die kleinen Kinder beobachten akribisch genau. Dagegen sind wir Erwachsenen blind und taub. Ich habe beim Zeichnen die Frisur von Olivia zweimal geändert, nur, um die Kinder zu reizen.

Monika Helfer kennt Christoph Abbrederis, seit er zwölf Jahre alt ist. Er bezeichnet sie als seine wichtigste Mentorin.
Abbrederis: Uns verbindet viel: Die Lust am Fabulieren, ein schräger Humor und ein gewisser unkontrollierter Schlingerkurs.
Helfer: Ich würde Christophs Zeichnungen aus tausenden heraus erkennen. Er hat seinen eigenen Strich.

Monika Helfer, Christoph Abbrederis: Dickerle. leykam Verlag, Graz/Wien 2021, 48 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-7011-8201-5, € 14,50