Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Ingrid Bertel · 30. Sep 2021 · Literatur

Fake News und Feminismus

Im Jahr 1848 zeigten die Titelseiten amerikanischer Zeitungen immer wieder drei Mädchen: Kate (11), Maggie (14) und Leah (35) Fox. Sie galten als Erfinderinnen des Spiritismus und erzeugten eine weltweite Modewelle. In seinem Roman „Klopfzeichen“ stellt Bastian Kresser die Fox-Schwestern in ein Gesellschaftspanorama des viktorianischen Zeitalters und fragt nach ihren feministischen Ansprüchen.

Das traurigste Los haben Maggie und Kate, die beiden jüngsten von sechs Kindern der Familie Fox. Hungern und Frieren, Langeweile und Angst – daraus besteht ihre Kindheit. John Fox, der Vater, ist ein Trinker und Spieler, bevor er zum Frömmler wird. Unfähig und tyrannisch ist er allemal. Die Mutter, Margaret, weint oder brüllt, bevor sie endgültig in Lethargie versinkt. Die vier älteren Geschwister machen sich so schnell es geht vom Acker. Dysfunktional werden solche Familie heutzutage genannt.
Trost finden Maggie und Kate in der Wiese. Sie streicheln das lange, weiche Gras. Es ist das Haar eines toten Riesen, träumen sie. „Und der Tote Riese antwortet. Leise knackt er vor sich hin.“

„Es ist immer noch ein Spiel“

Anfangs sind es Gespensterspiele. Die Mädchen lockern Schrauben an Türen und Schränken, bis die von selber aufspringen. Sie lassen einen Apfel an einer Schnur die Treppe herunterkollern, damit die Mutter glaubt, es spukt. Sie hüten Kindergeheimnisse und lernen früh, „dass man die Launen voraussehen kann, dass sich die Wut ankündigt und man sich darauf vorbereiten kann, wenn man ganz genau beobachtet.“ Vor allem für Kate ist das genaue Beobachten eine Überlebensstrategie. An einem Tag im Frühling 1848 erklären die beiden Mädchen, dass sie Tote zum Sprechen bringen können. Die Nachbar*innen staunen.

„Es ist immer noch ein Spiel“, – mit diesem Satz beginnt der Roman – „obwohl es inzwischen oft mehr zu sein scheint.“ Viele Menschen möchten nämlich gerne glauben, dass es mehr ist, möchten Kontakt zu geliebten Verstorbenen aufnehmen. Die Kindersterblichkeit ist hoch, der Amerikanische Bürgerkrieg hat viele junge Leben gekostet. Wenn der Tote Riese Klopfgeräusche von sich gibt, ist die Verbindung mit den Toten hergestellt.
Prominente Besucher stellen sich ein bei Maggie und Kate: der Erfolgsautor James Fenimore Cooper („Lederstrumpf“, „Der letzte Mohikaner“), der Herausgeber und Leitartikler einer einflussreichen New Yorker Tageszeitung Horace Greeley und der Verleger, Literaturkritiker und Autor Rufus Griswold. Sie sorgen für die erste Bekanntheit der Kinder.

Expeditionen

Eingefädelt hat diese Prominenten-Besuche die wesentlich ältere Schwester Leah. Schon seit längerem hat sie beobachtet, was mediale Aufmerksamkeit bewirkt. Zeitungsberichte über die Arktisexpedition Sir John Franklins und das spurlose Verschwinden seines Schiffes machen ihr klar, „dass ohne die Berichterstattung niemand von dieser Expedition oder von Franklin selbst erfahren hätte und dass dieser Mann seinen diskutierbaren Ruhm allein den Zeitungen zu verdanken hatte.“

Leah wittert ein Geschäft. Gegen Eintrittsgeld gibt es neben der Séance mit Maggie und Kate auch Wein, bisweilen Opium. Und dann leuchten an der Decke Sterne aus phosphoreszierenden Farben, dann schwebt der Tisch, und der Tote Riese kann jede Frage beantworten. Kate wird darüber zum Junkie, Maggie zur Alkoholikerin, und Leah verleiht die Mädchen gegen entsprechendes Aufgeld an Privathaushalte. Ihr stattliches Vermögen erwirbt sie im Namen der guten Sache.

Frauenrechte

Im Juli 1948 nimmt sie mit den Schwestern an der Seneca Falls Convention teil, dem ersten Treffen, auf dem offiziell die Frauenrechte definiert werden. Da erklärt die Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton: „Wir halten diese Wahrheiten für augenscheinlich wahr, … dass alle Männer und alle Frauen, sie betont es erneut, auch alle Frauen, gleich geschaffen sind!“

Zwar ist es mit den „wahren Wahrheiten“ bei den Fox-Schwestern nicht allzu weit her, aber Leah erkennt, dass sich ihre geschäftstüchtige Ader als Feminismus deklarieren lässt. „Was ihr tut“, sagte Elizabeth Cady Stanton ernst, „du und deine Schwestern, das hat es zuvor nicht gegeben. Die Menschen hängen an euren Lippen, sie bezahlen dafür, Zeit mit euch zu verbringen, sie bezahlen dafür, zu hören, was aus den Mündern deiner Schwestern kommt. Und genau das gibt euch Macht.“
An Macht ist die scheue Kate vollkommen desinteressiert. Dafür sorgen schon die peinlichen körperlichen Untersuchungen durch Ärzte und Wissenschaftler, die dem Geheimnis des Toten Riesen auf die Spur kommen wollen und aus ihrer frauenfeindlichen Verachtung der Geschwister kein Geheimnis machen.
Die extrovertierte Maggie dagegen genießt den Ruhm und stürzt sich in allerhand gesellschaftliche Abenteuer. Sie verliebt sich in den Forscher und Abenteurer Elisha Kent Kane, der unter großem Medieninteresse nach der verschollenen Expedition Sir John Franklins sucht. Für die Expeditionen Maggies ins Unbewusste hat er dagegen nur Verachtung übrig: „Niemals könntest du dich zu meinen Gedanken und meiner intellektuellen Größe erheben. Und ich könnte mich niemals zu deinen herablassen.“ Als er nach 27 Monaten aus der Arktis zurückkehrt, erfährt Maggie das aus den Zeitungen.

Machtfragen

Leah aber schwingt die große rhetorische Keule: „In allen Berufen wurden Frauen ausgenützt, ausgebeutet, schlecht behandelt und standen auf der untersten Sprosse der Hierarchie. Bis jetzt! Maggie, Kate und Leah hatten einen neuen Beruf erfunden, der den Frauen gehörte, den sie für sich beanspruchten, der Frauen aus diesem Abhängigkeitsverhältnis befreit hatte und ihnen eine finanzielle Selbständigkeit ermöglichte, die zuvor nicht möglich gewesen war.“

Bastian Kresser erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Maggie, Kate und Leah, wobei Leah zur allwissenden Erzählerin wird und sich in dieser Rolle als ziemliche Spaßbremse erweist. Jedem Spannungsmoment macht sie ansatzlos den Garaus: „Nur in einem irrte er sich… Es war ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen sollte… Es würde nicht…“
Dazu kommen ihre hölzerne Streberhaftigkeit und ihre ausbeuterische Art, für die sie sich in grammatikalisch wackeligen Sätzen verteidigt: „Man muss das System verstehen und es für sich nutzen … Wenn dir das gelingt, dann wirst du und nicht die anderen es sein, die dein Leben kontrolliert.“
Bastian Kresser möchte ein Gesellschaftspanorama schildern. Aber wie soll das gehen mit einer Leah, die die Weisheit mit Löffeln gefressen hat? Er möchte von einer Medienwelt erzählen, die ihr Geschäft mit fake news macht. Aber dazu bräuchte er eine ironische Distanz zur Sprachgestalt der News. Er möchte von drei Schwestern erzählen, die unter dem Druck medialer Öffentlichkeit krank werden. Aber es fehlt ihm die Empathie für seine Figuren. Er möchte von den ersten Schritten zu weiblicher Gleichberechtigung erzählen. Aber die These von der Emanzipation via Tischerlrücken ist dafür wirklich allzu lahm.

Bastian Kresser: Klopfzeichen. braumüller verlag, Wien 2021, 400 Seiten, Hardcover, ISBN978-3-99200-305-1, € 24

Lesung Bastian Kresser „Klopfzeichen“
Mo, 18.10., 20:00 Uhr, Kuppelsaal, Vorarlberger Landesbibliothek Bregenz