Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Annette Raschner · 01. Okt 2021 · Literatur

Alois Hotschnig: „Der Silberfuchs meiner Mutter“

Wie es war und wie es hätte sein können Die einen mögen es Zufall, die anderen mögen es Magie nennen. Im Dezember 2016 sah Alois Hotschnig im Fernsehen eine Sendung über ehemalige „Lebensborn“-Kinder. Der aus Kärnten stammende Schriftsteller hatte sich bereits in der Vergangenheit intensiv mit dem 1935 von Heinrich Himmler gegründeten Verein auseinandergesetzt, der bis Kriegsende unzählige schwangere Frauen, die von Soldaten der Wehrmacht und von Mitgliedern der SS ein Kind erwarteten, aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich holte, um ihrer „arischen“ Kinder habhaft zu werden. Von der Lebensgeschichte eines Mannes, der 1942 durch „Lebensborn“ im Bauch seiner norwegischen Mutter von Kirkenes nach Vorarlberg kam, um wenige Monate später in Hohenems zur Welt zu kommen, war Hotschnig derart berührt, dass er diesem einen Brief, versehen mit der Frage schrieb, ob er sich vorstellen könne, die Hauptfigur in seinem nächsten Buch zu werden. Fünf Jahre nach der ersten Kontaktaufnahme ist nun im Verlag Kiepenheuer & Witsch der Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ erschienen.

Der Rhythmus eines Stockenden

„Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.“ Mit einem de facto unvollständigen Satz lässt Alois Hotschnig seinen Roman beginnen. In der Ich-Form erzählt ein Mann, der schließlich ein Schauspieler geworden ist, von seinem Aufwachsen im Vorarlberg der 1940er Jahre. „Nicht einmal hätte jemand zu ihr gesagt, wir helfen dir. Nur immer, du nicht Deutsch können, du wieder gehen.“ In schlichten Worten und Sätzen hebt er an, der Erzählfluss stockt immer wieder. Es ist die Sprache eines Menschen, der sich bezüglich seiner eigenen Erinnerung unsicher ist, der sich erst vergewissern muss, sich im Klaren darüber werden muss, wer mit ihm eigentlich gemeint ist. War er mit seiner „richtigen“ Mutter zusammen oder hatte man ihn nach der Geburt vertauscht? Wer ist sein Vater und wer ist er, der im Buch den Namen Heinz Fritz trägt?


Langsames Zueinanderfinden

Der unter anderem mit dem Erich Fried-Preis, dem Anton Wildgans-Preis und dem Gert Jonke-Preis ausgezeichnete, in Innsbruck lebende Schriftsteller Alois Hotschnig hat sich viel Zeit gelassen, um den ganz in seiner Nähe wohnenden, heute pensionierten Schauspieler kennenzulernen. Ein persönliches Treffen fand erst nach Monaten statt, die Wochen zuvor telefonierten die beiden häufig und lange. „Er hat mir zu Beginn fast nur von Filmen, Theaterstücken und Rollen erzählt, die für ihn von Bedeutung waren. Es hat etwas gedauert, bis ich erkannt habe, dass er da schon die ganze Zeit über sich gesprochen hat.“ Nach jedem Telefonat schickte Alois Hotschnig einen kurzen Text zu einem Thema, das im gemeinsamen Gespräch angeschnitten worden war. Im darauffolgenden Frühjahr wurde ihm erstmals ein Besuch vorgeschlagen. „Ab diesem Moment war ich in meiner Romangeschichte.“


In Kirkenes hat es begonnen

Dort lernen sich Anfang 1942 die Krankenschwester Gerd Hörvold und der verwundete Soldat Anton Halbsleben kennen – und lieben. Sie, die Tochter des Bürgermeisters der Stadt, wird von ihm schwanger und muss weg, denn in Norwegen gilt sie von nun an als Kollaborateurin, ja, als „Nazi-Hure“. In Vorarlberg soll geheiratet werden, in Hohenems will die Familie Gerd willkommen heißen. Doch dazu kommt es nicht. Im Hohenemser Krankenhaus bringt sie zwar noch ihren Heinz zur Welt, aber dann muss dieser vier Jahre ohne sie auskommen. Was genau passiert ist, bleibt im Dunkeln. „Dann landete sie, glaube ich, in einer Nervenklinik oder an einem anderen Ort, und ich war in einem Heim, etwa zwei Jahre, ich konnte es nie klären.“


Zwangsarbeit, Euthanasie und Rassismus

Im Zuge seiner Recherchen in Vorarlberg hat Alois Hotschnig auch mit der großzügigen Unterstützung des Historikers Arnulf Häfele Leerstellen füllen können, andere bestehen bis heute. „Ich fantasiere, ich muss fantasieren, aber es ist möglich, sonst wäre es auch kein Roman.“ Es sei nie seine Intention gewesen, eine Biografie nacherzählen zu wollen, betont der Autor. „Ich wollte eine Geschichte auf Basis von Heinz´ Biografie erzählen, die zentrale Themen und Aspekte der Menschen, die zur damaligen Zeit in Vorarlberg gelebt haben, beinhaltet.“ In einer kompromisslosen Selbstbefragung versucht der Icherzähler, die Rätsel seiner Herkunft zu lösen. Doch auf einer zweiten Ebene geht es auch um Zwangsarbeit, Euthanasie, Rassismus und Antisemitismus, und Alois Hotschnig nennt die Täter, aber auch die Menschen, die geholfen haben, beim Namen. „Meine Mutter wäre eine Kandidatin gewesen für den Doktor Vonbun, der sie alle nach Hall und nach Hartheim geschickt hat.“


Stationen einer Kindheit

Als kleiner Bub wird Heinz zu einem Bauern nach Lustenau gebracht. Seine erste Erinnerung korreliert mit einer Landkarte im Hause des Mannes. „Dann hat er meinen kleinen Finger genommen und gesagt, schau Heinz, dort ist Kirkenes und hat mich mit seiner Zigarre gebrannt.“ 1946 holt ihn die Mutter wieder zu sich. Sie wohnen in der „Post“ in Lustenau, dann in einem Haus neben dem Gasthaus Lamm, schließlich bei einem alten jüdischen Ehepaar, das sich später das Leben nimmt, bis Gerd ihren künftigen Ehemann Reinhard Fritz kennenlernt. „Aber bis dahin waren wir, war sie mit mir allein, und diese Zeit, in der wir von einem Loch zum anderen gezogen sind, das war die beste Zeit.“ Trotz der epileptischen Anfälle der Mutter, die den Jungen ängstigen und die an Häufigkeit zunehmen. Als die beiden in die so genannte „Desser-Siedlung“ in Lustenau ziehen, ist Heinz acht Jahre alt. Neun Jahre später wird sein bereits lungenkranker Stiefvater sterben. „Diese Jahre haben mir gereicht, um mir zu zeigen, wie man Tiere tötet rund um die Uhr.“ Die große Passion des Stiefvaters ist das Schlachten, die Schilderungen kommen Sequenzen aus einem Horrorfilm gleich. Für die Nachbarn sind die ohne Kopf weglaufenden Hühner ein Anlass, um sich „totzulachen“, für Heinz bedeutet es ein Trauma, das ihn nie wieder loslässt.


Das verzweifelte Ringen um Liebe

In Vorbereitung auf sein erstes großes Romanprojekt nach „Ludwigs Zimmer“ (2000) hat Alois Hotschnig jahrelang mit verschiedenen Erzählformen experimentiert. In dem Erzählband „Im Sitzen läuft es sich besser davon“ (2009) hat er die Figur des Erzählers ganz abgeschafft. Für den neuen Roman wählte Hotschnig erstmals einen Erzähler, der praktisch von außen in den Kopf eines anderen Menschen (Heinz) eintaucht und somit auch seine inneren Stimmen zu Gehör bringt. Diese sind es, die das Buch so bewegend und teilweise auch erschütternd machen. In solchen Passagen erhält man den Eindruck, Heinz Fritz sehr nahe zu kommen. Mit viel Gefühl und Empathie skizziert  er eine schwierige, ambivalente Mutter-Sohn-Beziehung. Sie ist von Erschütterungen, Fremdheit, Zweifeln und Unsicherheiten geprägt. „Wir sind uns so fremd, hat sie immer gesagt. Aber das, denke ich, hat auch einen Grund, ich war vier Jahre alt, da habe ich sie erst kennengelernt, das ist schon sehr spät, da hatte ich schon einiges erlebt, in diesen vier Jahren. Du bist nicht von mir. Man hat dich vertauscht, sagte sie.“ Heinz ringt um die Liebe seiner Mutter, er wünscht sie sich sogar so sehr, dass er ihre epileptischen Anfälle imitiert.


Die rettende Welt der Kunst

In jenem Koffer, mit dem die Mutter damals von Kirkenes nach Hohenems gekommen ist, findet Heinz eine abgegriffene, norwegische Ausgabe von Ibsens Theaterstück „Peer Gynt“. Der Fund ist eine Sensation, denn im Haus des Stiefvaters gibt es keine Bücher. Heinz bittet seine Mutter, ihm daraus vorzulesen. „Ich verstand nicht ein Wort und habe doch alles verstanden. Meine Mutter hat mir die Ase vorgespielt. Peer Gynts Mutter, die Szene von der Himmelfahrt seiner Mutter, wenn sie da in den Himmel aufsteigt, diese Szene hat sie mir vorgespielt. Immer und immer wieder ist sie vor meinen Augen in den Himmel aufgefahren, und ich konnte nicht genug bekommen davon.“ Zum ersten Mal kann der Junge in eine andere, eine schönere Welt eintauchen. „In ihrem Zimmer, auf ihrem Bett, mit diesem Buch auf dem Schoß brachte sie mich spielend noch einmal zur Welt.“


Sehnsuchtsorte

Mit dem Vorlesen eines Theaterstücks legt die Mutter ein Ventil in seine Seele. Ähnliches passiert im Kino, für das sie eine Dauerkarte besitzt. „Der Glöckner von Notre Dame“ hat es ihm angetan und auch Gina Lollobrigida. Im Kino holen die beiden ihre Leben nach, und bei Tagen „mit gutem Wetter im Kopf“ tanzt die Mutter Charleston oder spielt eine Diva wie Greta Garbo oder Zarah Leander. Sie, „die schöne Ausländerin“, „die Norweger-Hur“, wie sie in Vorarlberg genannt wird. Ein weiterer Sehnsuchtsort ist der Alte Rhein, in dem Heinz am liebsten schwimmt, wenn es heftig blitzt und donnert. Und zwar genau dort, wo nur wenige Jahre davor Flüchtende über die Grenze gegangen sind. „In der Mitte vom Fluss war man schon in der Schweiz. Auf unserer Seite vom Fluss ging es in die Lager, nach Theresienstadt.“ Gekonnt schlägt Alois Hotschnig die Brücke zu heute, etwa wenn er Heinz sagen lässt: „Einen Grüninger bräuchte es auf jedem dieser Schiffe und in jedem Hafen, der diese Menschen eben nicht wieder zurückschickt über den Alten Rhein von damals und jetzt.“

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter. Köln 2021, 224 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-462-00213-3, € 20

Lesung Alois Hotschnig
Do, 7.10., 19.30 Uhr, Theater am Saumarkt Feldkirch