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Ingrid Bertel · 04. Apr 2012 · Literatur

Trans-Maghreb: Hans Platzgumer besteigt den Hochgeschwindigkeitszug durch den arabischen Frühling

Jedes Kind kann heute, im Frühling 2012, die fünf wichtigsten Städte Libyens herbeten: Tripolis, Benghazi, Misrata, Sirte, Surt. Vor einem Jahr hat der arabische Frühling einen der schillerndsten Diktatoren hinweggefegt: Muammar al-Gaddafi. Wer war dieser Mann, der als böser Bube in Fantasie-Uniformen gerne auf europäischem Parkett auftrat? Der 2004 vollmundig verkündete: „Wahlen? Wozu denn? Dieses Stadium haben wir längst hinter uns gelassen. Denn das Volk hat die Macht!“ Mittlerweile hat „das Volk“ ihn ja beim Wort genommen. Das alles kommt irgendwie auch vor in Hans Platzgumers Novelle „Trans-Maghreb“, die auf merkwürdige Art entstanden ist.

Pirelli für Intellektuelle

So etwas passiert Schriftstellern nicht alle Tage! Irgend jemand aus dem Vorstand der Wiener AC Bau- und Handels GesmbH liest Hans Platzgumers Tschernobyl-Roman „Der Elefantenfuß“ – und hat eine zündende Idee: Wie wär’s, exklusiven Kunden eine Erzählung, quasi einen Pirelli-Kalender für Intellektuelle, anzubieten? Die Anfrage, eine für Bauunternehmen maßgeschneiderte Erzählung zu schreiben, nimmt Hans Platzgumer mit Freude auf, und der Humor verlässt ihn auch nicht, als der Auftraggeber meint, man könne doch den Helden – naturgemäß einen Bauträger – gleich mal ins Jenseits befördern. Anton Corwald (AC!) nennt Platzgumer diese Figur.

Dass der Autor so positiv auf den Vorschlag reagiert, hat einen einfachen Grund: Die Geschichte hat sich in seinem Kopf schon vorher mehr oder weniger geschrieben, und es ist eine wahre Geschichte. Platzgumer, sonst ein Autor, der umfangreiche Recherchen betreibt, muss seinem Schwager nur gut zuhören. Der ist gerade von einer libyschen Baustelle zurückgekehrt und hat Spannendes zu berichten.

Die Vorgeschichte

Im August 2010 bekommt das staatliche russische Bahnunternehmen „Rossiiskie Zheleznie“ (RZhd) einen Auftrag im Volumen von 2,2 Billionen Euro für die Bahnverbindung Surt-Benghazi. Mit 250 km/h sollen hier die Züge entlang der Mittelmeerküste fliegen. Der Bahnabschnitt in Libyen ist aber nur eine Tranche des Plans, der die maghrebinischen Staaten Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien mit einem Hochgeschwindigkeitszug verbinden soll. Im März 2010 sind 14 Kilometer des 551 Kilometer umfassenden Bauabschnitts zwischen Surt und Benghazi gebaut. 438 Menschen arbeiten an der Bahnstrecke, ein paar Österreicher sind auch darunter. Als der arabische Frühling die „Trans-Maghreb“ in ein Milliardengrab weht, sitzen sie in ihren Containern fest – ohne Telefon, ohne Fernsehen, ohne Internet.

Die Österreicher-Geschichte

42 Jahre lang konnte sich Muammar al-Gaddafi an der Macht halten. Und er knüpfte in dieser Zeit Beziehungen zu etlichen österreichischen Politikern. Im März 1982 empfing Bruno Kreisky den Diktator, dessen antisemitische Politik sich in Pogromen und willkürlichen Verhaftungen seit 1969 nachweisen ließ. 1983 wurde eine Delegation deutscher und österreichischer Grüner (Otto Schily, Fritz Zaun) von Gaddafi empfangen. Ihnen versicherte der Diktator: „Die Grünen sind die Alternative für Europa“ – und unterstützte das alternative Monatsmagazin „MOZ“ finanziell mit über 5 Millionen Schilling. „MOZ“-Geschäftsführer Auer schrieb in einem Leitartikel im Jänner 1985, man habe sich das Geld „direkt in Libyen unter Umgehung offizieller, diplomatischer und bürokratischer Kanäle besorgt.“

Da spitzten manche in der FPÖ die Ohren. 1989 hielt deren Bundesgeschäftsführer Harald Göschl Gaddafis „grünes Buch“ mit dem FPÖ-Programm für „vereinbar“. Harald Ofner folgte einer Einladung Gaddafis zu einer Konferenz – im Flugzeug nach Tripolis saßen grüne neben freiheitlichen Funktionären. Die innigste Beziehung zu Familie Gaddafi pflegte aber wohl Jörg Haider. Seit 1999 besuchte er den Diktator regelmäßig – mal in Gesellschaft des Vorstandschefs der Kärntner Hypo-Alpe-Adria Bank, Wolfgang Kulterer, mal mit Parteifreund Herbert Scheibner oder 2003 mit Vizekanzler Hubert Gorbach.

Die Platzgumer-Geschichte

Alle diese Verwebungen mit Geschäften und politischen Karrieren spielen in Hans Platzgumers Buch nicht die geringste Rolle. Er erzählt aus anderer Perspektive, gleichsam aus dem Inneren des Landes, in das es seinen Ich-Erzähler, einen 38-jährigen Tiefbauingenieur, einigermaßen zufällig verschlagen hat – und aus dem er im März 2011, mitten im arabischen Frühling, mit viel Glück nach Wien zurückkehrt. Im Fernseher glaubt er, die Leiche seines Bauträgers, Anton Corwald, zu erkennen. Denn diese Leiche am Strand ist so viel heller, so anders gekleidet als die afrikanischen Exilanten. „Die afrikanischen Exilanten werden bereits in libyschen Lagern aufgehalten, zusammengepfercht“, weiß dieser Tiefbauingenieur. „Um das durchzusetzen schloss die EU einen Pakt mit Gaddafi.“ Mehr will er nicht wissen. Das Land ist ihm fremd und bietet nichts von den Annehmlichkeiten, die er schätzt: Frauen, Bier, Fernsehen. Ersatzweise geht er in Abdullahs Kramladen am Rand des Containerdorfs, in dem er wohnt. „Meine Beziehung zu Abdullah war der engste Kontakt, den ich in diesem Land knüpfte. Zu mehr sozialem Feingefühl bin ich offenbar nicht fähig.“

Müllberge

Was diesen Mann zutiefst abstößt, ist das Umweltdenken der Libyer. Jede Ortschaft ist von einem Müllgürtel eingeschnürt. „Das Land war im Verpackungsrausch. Alles, was seine sechs Millionen Einwohner erwarben, kam in dicken Kunststoffschichten, und all dieser Zivilisationsmüll wurde auf den Boden geworfen, von wo ihn der Wind in alle Himmelsrichtungen zerstreute.“ Getankt wird so, dass grundsätzlich eine Benzinlache neben dem Auto zu finden ist, und wenn einer Öl wechselt, dann lässt er das alte Öl im Boden versickern. Anton Corwald reagiert spöttisch auf das Entsetzen seines Tiefbauingenieurs: „Treibstoff ist hier billiger als Wasser, das bei uns daheim ja auch ein jeder vergeudet.“

Kühl taxierender Blick

Wasser ist im Übrigen das größte Hindernis beim Bahnbau in der Wüste, denn der Bautrupp quert mehrfach den „Great Man Made River“: „Seit den 80er Jahren pumpt Gaddafi in meterdicken Rohren fossiles Grundwasser, das in unterirdischen Becken der Sahara entdeckt wurde, vom Inneren des Landes zu den Küstenmetropolen.“ Der Ingenieur ist froh, dass ihm das Entkommen in eine dieser Küstenmetropolen gelingt. Er will nur noch weg aus einem Land, das vermutlich mit Menschen auch nicht pfleglicher umgeht als mit der Natur. Hans Platzgumer wirft einen kühl taxierenden Blick auf seine Protagonisten, enthält sich eines Urteils, sammelt Bilder, Fakten, Einschätzungen, um zu berichten, wie das Empfinden in einer solchen Extremsituation Volten schlägt. Ein Anflug solcher Zurückhaltung wäre jenen Politikern, die bei Gaddafi die Hand aufhielten, schon angestanden. Aber Politikern geht es eben um Definitionsmacht – und Schriftstellern nicht.

Hans Platzgumer: Trans-Maghreb, 120 Seiten, Limbus Verlag, Innsbruck 2012, ISBN 978-3-902534-55-2, EUR 13,90