Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Markus Barnay · 14. Apr 2020 · Literatur

Tödlicher Rassismus - neues Buch über Roma und Sinti im Bodenseeraum

„Bei dem ihm eingewurzelten Hang zur Verübung von Diebstählen, seinem angeborenen Freiheitsbedürfnis und seiner unüberwindlichen Scheu von [sic!] einem geregelten Leben und Arbeit ist mit Sicherheit damit zu rechnen, dass der Angeklagte nach seiner Strafverbüssung alsbald rückfällig wird.“ Vielleicht können wir bald wieder solche, von Vorurteilen und Klischees strotzende Urteile lesen, wenn sich der türkise Teil unserer Bundesregierung (unterstützt vom schwarzen Teil der Landesregierung) mit der Forderung nach einer vorbeugenden „Sicherheitshaft“ durchsetzen sollte. 1940, als obiges Urteil verfasst wurde, hieß es noch „Sicherungsverwahrung“, und die wurde in diesem Fall gegen Georg August Reinhardt ausgesprochen. Der Sohn einer „Zigeunerfamilie“ war zuvor zu 15 Monaten Haft verurteilt worden, weil er in der Nähe von Stuttgart ein Fahrrad entwendet und ein paar Kilometer weiter abgestellt hatte. Jetzt wurde zudem noch die „Schutzhaft“ über ihn verhängt. Die endete für ihn mutmaßlich mit der Deportation in ein Vernichtungslager, wo er ziemlich sicher ermordet wurde.

Angefeindet, verfolgt und vertrieben

Der Fall Reinhardt ist einer von zahlreichen ähnlichen Fällen, die der Schwarzacher Historiker Severin Holzknecht in seiner neuesten Publikation aus verschiedenen Archiven zusammengetragen hat: „Verhasst, verfolgt, vernichtet.“ handelt von Menschen, die über Jahrhunderte hinweg angefeindet, verfolgt, eingesperrt und vertrieben wurden, und das, obwohl sie sich in vielen Fällen nichts zuschulden kommen ließen. Holzknecht konzentriert sich auf das 20. Jahrhundert, in dem die Verfolgung der Roma und Sinti in der systematischen Verfolgung und Ermordung durch die NS-Behörden gipfelte. Zwischen 300.000 und 500.000 von ihnen wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet, darunter 9.000 der 11.000 österreichischen Roma und Sinti. Und zumindest für Vorarlberg lässt sich feststellen: Im Gegensatz zu den jüdischen Bürger*innen, die zwar verbal angefeindet und strukturell diskriminiert wurden, aber im 20. Jahrhundert erst mit der Machtübernahme der Nazis an Leib und Leben bedroht wurden, litten die als „Zigeuner“ betitelten Roma, Sinti und anderen fahrenden Händler und Bettler schon längst unter verschiedenen Formen von aktiver Verfolgung. Sie wurden zwischen Kantonen, Staaten und Ländern hin- und hergeschoben, willkürlich verhaftet und eingesperrt und bisweilen von den Behörden geradezu ausgeraubt (so mussten wiederholt fahrende Händler ihre Pferde verkaufen, um das Geld für die erzwungene Ausreise per Bahn aufzubringen).

„Wilde Ehe“ als „Kulturschande“

Was Holzknecht in seiner detailreichen Studie an unfassbaren Vorgängen in allen Anrainerländern des Bodensees ausgegraben hat, ist eine geballte Mischung aus Rassismus, Verfolgungswahn und Sadismus, wie man sie kaum für möglich halten würde – vor allem, wenn man weiß, dass die „Zigeunerplage“, von der ständig die Rede war, aus ein paar wenigen Familien bestand, die versuchten, sich als Hausierer, Bettler oder Straßenkünstler durchzuschlagen. Zu verdanken sind die Aktivitäten zum Teil dem Eifer der Ortsvorsteher, die rigidere Maßnahmen gegen die „Zigeuner“ forderten. 1925 beklagte sich beispielsweise der Koblacher Gemeindevorsteher Peter Längle bei der Landesregierung über eine Familie, die zwar mit Gewerbeschein, und damit ganz legal, hausieren ging, die aber angeblich darüber hinaus mit „Musizieren, Wahrsagerei und Betteln (zu Wucherpreisen)“ Geld verdiente. Die betreffenden Personen seien außerdem eine „Kulturschande“, weil sie „teils in wilder Ehe, in der denkbar unsittlichsten Art in einem Karren wohnen und leben und zwar alles untereinander, jung und alt und beiderlei Geschlechts“.

Verfolgung auch in der Schweiz

Die „Zigeuner“, übrigens keineswegs nur Roma oder Sinti, sondern grundsätzlich alle Menschen mit einem unsteten Lebenswandel, wurden in allen Ländern rund um den Bodensee diskriminiert. In der Schweiz, wo mit den „Jenischen“ noch eine eigene Gruppe von Fahrenden lebt, die sich nicht als Roma oder Sinti definieren, wurde bereits 1906 der „Transport von Zigeunern mit der Bahn“ verboten – ein Erlass, der erst 1950 aufgehoben wurde. Überhaupt bekleckerte sich die neutrale Schweiz während des Zweiten Weltkriegs auch bei diesem Thema nicht mit Ruhm: Sie ließ – auch nach der Wieder-Einführung des Rechts auf Asyl für an Leib und Leben bedrohte Menschen im Sommer 1944 – keine Roma und Sinti ins Land. Sie wurden, wenn man sie beim Grenzübertritt erwischte, den NS-Behörden übergeben und in den sicheren Tod geschickt.  

Diskriminierung auch vor und nach der NS-Zeit

In Vorarlberg war die Grundlage für die Ermordung der „Zigeuner“ schon 1931 gelegt worden: In einem „Richterlass“ (nicht, wie Holzknecht irrtümlich mehrfach schreibt, in einem „Richtererlass“) zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ verfügte die Landesregierung die Meldung, Überwachung und erkennungsdienstliche Erfassung aller Fahrenden, sodass die NS-Behörden 1938 bei ihrem, nunmehr deutlich rassistisch unterlegten, Vernichtungsfeldzug gegen „Asoziale“ und „Zigeuner“ auf ein umfangreiches Register zurückgreifen konnten. Beschämend ist aber auch der Umgang mit den überlebenden Roma und Sinti in der Nachkriegszeit: Statt sie für das erlittene Unrecht zu entschädigen, wurden sie weiterhin in allen Bodenseeanrainerländern diskriminiert, benachteiligt und vertrieben.
Bleibt noch eine kritische Anmerkung zum Schluss: Warum das größte Zigeuner-Zwangslager im Bodenseeraum im Ravensburger Ummenwinkel, wo während der NS-Zeit über 100 Sinti inhaftiert und über 30 deportiert und ermordet wurden, in Holzknechts Buch nicht vorkommt, bleibt angesichts der gründlichen und wissenschaftlich seriösen Arbeit rätselhaft.

Markus Barnay ist Redakteur im ORF-Landesstudio Vorarlberg

Severin Holzknecht: Verhasst, verfolgt, vernichtet. Die Roma und Sinti im Bodenseeraum im 20. Jahrhundert. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 82, Feldkirch 2020, 270 S., ISBN 978-3-902601-58-2. Erhältlich über das Kulturreferat der Stadt Feldkirch.