Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Anita Grüneis · 19. Apr 2020 · Literatur

Der Datendiebstahl und ein Debütroman

„Für immer die Alpen“ ist der erste Roman des 31-jährigen Benjamin Quaderer. Und es wurde gleich ein großer Wurf. Der junge Autor schreibt mit einer Lässigkeit und Selbstverständlichkeit, als hätte er schon Dutzende solcher Bücher geschrieben. Dabei umfasst sein Werk 592 Seiten, ist voller Überraschungen, liest sich spannend wie ein Kriminalroman und ist zugleich extrem tiefsinnig. Die Lektüre wird zum Sog, der einen mitnimmt in das Leben eines Mannes, der seine Umgebung mit großer Wachheit wahrnimmt und seine Hauptperson mit viel literarischem Freiraum durch das Leben gaunern lässt. Dabei schafft er manchmal Wortgebilde, die sich so mächtig auftürmen wie die Alpen, für immer.

Im Mittelpunkt steht die Figur des Johann Kaiser – eine Kunstfigur, die auf der realen Person des Heinrich Kieber beruht, der in Liechtenstein aufwuchs und im Jahr 2008 mit seinem Datendiebstahl die Finanzwelt nicht nur im Fürstentum erschütterte. Kiebers Leben und seine Taten bilden das Skelett, um das Benjamin Quaderer seine Geschichten wickelt. Er klaut quasi die Daten des Datendiebs, um daraus seine eigene Hauptperson Johann Kaiser zu erfinden.

Das Entsetzen bei der Geburt

Im Vorwort wünscht Johann Kaiser eine „angenehme, aber aufrüttelnde Lektüre“. „Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf“, mit diesen Worten beginnt das Buch und dies ist an sich auch der Schluss der Geschichte. Dazwischen entfaltet sich das Leben eines zutiefst gedemütigten Menschen, der sich auf seine Weise Genugtuung verschafft.
Schon die Geburt des kleinen Johann wird zu einer abenteuerlichen Erzählung: „Wie kalt die Welt war. Wie ungemütlich und trist. Das Licht im Kreißsaal war schwach, Regentropfen schlugen gegen die Fenster. Alfred (Anm.: der Vater) saß am Bett und hielt sich das Bein (...) Im Versuch mich zum Lachen zu bringen, beugte er sich über mich und schnitt eine Grimasse. Vor lauter Entsetzen, dass ich mit diesem Menschen den Rest meines Lebens verbringen würde, stieß ich einen Schrei aus, der die Scheiben in den Fensterrahmen zum Schwingen brachte. Der Schrei echote sich aus dem Gebäude hinaus, umschwirrte die Spitze des Kirchturms und rang der Glocke darin 12 Schläge ab. Durch den Türschlitz drang er in das Regierungsgebäude – das Gute an Vaduz ist seine Kompaktheit, alles liegt unmittelbar nebeneinander –, fegte durch den Landtagssaal und verschaffte sich Zutritt zum Büro von Regierungschef Dr. Gerard Batliner, der mit der Stirn auf der Tischplatte schlief.“ Mit dieser Geburtsgeschichte und der folgenden Beschreibung führt der Autor sein Lesepublikum in das Herz von Liechtenstein inklusive der Berge, dem Schloss mit seinen Kunstwerken und der Bergwelt.  

Die fünfzehn Bücher in einem

Das Buch selbst ist in fünfzehn Bücher gegliedert, die sich chronologisch aneinanderreihen und so die Geschehnisse leicht erlebbar werden lassen. Zudem sorgen stilistische Elemente für optische und inhaltliche Reize. So sind im fünften Buch (1983-1986) immer wieder einzelne Wörter oder Sätze von Briefen geschwärzt und erregen gerade damit die Aufmerksamkeit der Lesenden. Auch später gibt es geschwärzte Seiten – sie sind so geschickt gearbeitet, dass zum Beispiel nur noch „Es tut mir ? leid, dass ich nicht mehr sagen kann“ zu entziffern ist. Ein anderes Stilmittel ist die rote Druckfarbe, mit der ein Kriminalpsychologe auf den linken dem Kriminellen auf den rechten (schwarzgedruckten) Buchseiten gegenübergestellt wird. Die beiden Personen haben eines gemeinsam: Sie zählen gerne mit geschlossenen Augen. 

Die fatale Spirale beginnt in Spanien

Dem Kind Johann bringt seine Mamá das Zählen bei, wenn er nicht einschlafen kann. Als die Ehe der Eltern zerbricht und Mamá zurück in ihre Heimat Spanien kehrt, verfrachtet der Vater seine drei Kinder ins Kinderheim. Er selbst lebt einen Katzensprung entfernt im eigenen Haus in Mauren. Johann hat erste Selbstmordgedanken, und wäre da nicht Fürstin Gina, die sich speziell um ihn kümmert, hätte er seinem Leben vielleicht ein Ende gesetzt. Die Fürstin wird für ihn zur zweiten Mutter. Ihr Tod entzieht dem jungen Mann später vollends den emotionalen Boden.
Im dritten Buch (1979-1981) fährt Johann mit dem Moped, das er seinem Freund gestohlen hat, nach Barcelona, um seine Mutter zu suchen. Er findet Unterschlupf in einem Kloster und darf in eine Schule für höhere Töchter und Söhne. Da er dazugehören will, nennt er sich fortan Johann Hilti und gibt vor, Spross der berühmten Unternehmerfamilie zu sein. Der Name sorgt später dafür, dass Johann in Argentinien gefangen genommen wird, um den Unternehmer Michael Hilti zu erpressen, der aber keinen Sohn hat und daher gar nicht erst antwortet. Johann wird im Gefängnis gefoltert und kehrt extrem traumatisiert nach Liechtenstein zurück. Nun will er es allen heimzahlen. Auf seine Weise. Denn der völlig unterschätzte junge Mann ist gescheit und äußerst gerissen.
Das Buch liest sich wie ein Kriminalfilm, gleichzeitig glaubt man aber auch, eine Autobiografie vor sich zu haben. Man wundert sich über die Cleverness des Hauptakteurs, schwankt zwischen Bewunderung, Staunen und manchmal auch Empörung über das schamlose Ausnutzen von Freunden.

Auch ein Datendieb ist ein Attentäter  

Zum Höhepunkt seiner „Laufbahn“ wird eine Aussage vor dem US-Kongress, was Johann Kaiser das Zeugenschutzprogramm und eine neue Identität sichert. Dazu schenkt der Autor seiner Hauptfigur unter anderem diesen Subtext: „Ich befand mich an einem ortlosen Ort in einer zeitlosen Zeit und sah, während ich sprach, die Jahre, die ich durchlebt, die Orte, an denen ich gewesen war, an mir vorbeiziehen. Nichts tat mehr weh. Als läge der Zweck meines Lebens, all die Strapazen, durch die ich gegangen war, Argentinien, Vaduz, Berlin, Amsterdam, in diesen fünfzehn Minuten, redete ich, obwohl ich von Bankdaten sprach, nicht von Bankdaten, sondern von dem, was mir über die Jahre hinweg angetan worden war. Ich sagte ,Kundenmandat‘ und meinte ,Carl und Renata Tobler‘. Ich sagte ,Verschleierung der Transaktion‘ und meinte ein Kind, das ohne Eltern aufwächst. ,Stiftungsurkunde‘: Was mit einem Menschen passiert, wenn er ganz auf sich alleine gestellt ist. ,Wirtschaftlich Berechtigter‘: Das Gefühl, das man hat, wenn sich alles um einen auflöst. ,Channel Islands‘: jede versagte Berührung. Die Müdigkeit, die einen befällt, nachdem man der Welt mitgeteilt hat, was sie bislang nicht gehört hat.“
„Für immer die Alpen“ ist ein Buch, das unglaubliche Geschehnisse so leichtfüßig und zugleich tiefgründig beschreibt, dass man dabei auch neugierig auf den echten Heinrich Kieber wird. Wie viel Kieber steckt eigentlich im Quaderer? Dazu meinte der Autor in einem Interview: „Es gibt Benjamin Quaderer und es gibt Johann Kaiser und beide haben einige Zeit miteinander verbracht und sich vermutlich irgendwie beeinflusst, ineinander verschmolzen sind sie deswegen aber nicht. Dafür haben sie viel zu unterschiedliche Interessen.“

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Luchterhand Literaturverlag 2020, Hardcover mit Schutzumschlag, 592 Seiten, ISBN 978-630-87613-9, € 22,70 / CHF 30,90
Lesung: 12.5., 20 Uhr, Theater Kosmos, Bregenz