Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Ingrid Bertel · 21. Dez 2011 · Literatur

Runcale, Cavrilla und Eschganei: In der Reihe seiner Kulturlandschafts-Dokumentationen untersucht Johann Peer das Große Walsertal – und charakterisiert es als einstiges Tal der Rätoromanen

Die Legende von der friedlichen Kolonisation der Walser, die im 13. Jahrhundert auch in Vorarlberg ankamen, ist weit verbreitet und meist unwidersprochen. Doch kann sie so friedlich gewesen sein, wo doch im Großen Walsertal die meisten Ortsnamen auf rätoromanische Vorbesiedelung hinweisen?

Man denke an Raggal (rätoromanisch runcale, was so viel wie „abgeholzt“ heißt), man denke an Fontanella, Ganai, Plazera oder das Maisäß Garfülla im Gemeindegebiet von Raggal. Dieser Name geht auf das rätoromanische „cavrilla“ (Ziegenstall) zurück. „Garfülla umfasste ursprünglich 15 Anwesen, hatte bereits 1730 eine eigene Schule und war bis 1953 noch ganzjährig bewohnt“, hat Johann Peer recherchiert und das Maisäß, dessen Gehöfte zum Schutz vor Lawinen geradezu ins Gelände eingegraben sind, selbstverständlich auch besucht und fotografiert. Dabei stieß er auf kulturelle Siedlungs-Akzente, die im Großen Walsertal weit verbreitet sind: einen Bildstock, einen Bergahorn und jene kunstvoll errichteten Trockenmauern, die den Kleinlebewesen ökologische Nischen bieten.

Biosphärenpark

Ausgangspunkt für Peers Erkundung der Kulturlandschaft Großes Walsertal ist der Biosphärenpark mit seinen Kernzonen Gadental und Faludriga-Nova. Hier entdeckt er die seltenen Spirkenwälder. Im Biosphärenpark kann sich die Natur annähernd vom Menschen unbeeinflusst entwickeln. Forst- und Güterwege sind tabu; nur im mittleren Talabschnitt ist naturnahe Alpweidenutzung möglich. Darüber erstrecken sich die ursprünglichen Karsthochflächen. „Die langfristige Erhaltung eines störungsfreien Lebensraumes für alpine Wildtiere wie Rot- und Gamswild sowie Birk- und Schneehühner ist hier gewährleistet.“
Doch bei aller Liebe zur Natur: Das Große Walsertal ist eine in Jahrhunderten durch menschliche Arbeit geformte Kulturlandschaft, die ihre ökologische Stabilität dem Wissen dieser arbeitenden Menschen verdankt. Johann Peer sieht mit dem geübten Blick des Raumplaners, dass die Siedlungen – mit Ausnahme von Sonntag und Fontanella – durch tief eingeschnittene Tobel voneinander getrennt sind und dass starkes Gefälle und große Geschiebemassen es „nicht ratsam erscheinen (lassen), am Wasser zu bauen oder gar einen spielerischen Umgang mit dem Wasser zu pflegen, wie dies beispielsweise in einigen Orten des Bregenzerwaldes der Fall ist.“

Salzrouten, Säumerwege

Wer heute auf der Straße ins Walsertal fährt, hat jedenfalls nicht die Gelegenheit, in einem offenen Geschichtsbuch zu lesen. Die bekommt der Wanderer. Denn früher reichten die Dauersiedlungsräume bis auf eine Höhe von 1.750 Metern. Und hier finden sich auch die vom Tourismus verschonten Relikte der Walser Kultur. Dem Fotografen Nikolaus Walter etwa fiel schon vor Jahren eine Besonderheit der Alpe Klesenza auf: die am Nordhang der Roten Wand gelegene Oberalpe Spitzegga mit ihren stufenförmig übereinander angeordneten sechs Hütten. Peer: „Diese Form des 'Bauens in der Landschaft' ist in den Nordalpen selten anzutreffen und zeigt, dass die gewaltige Herausforderung der Natur schon früh zu sehr kreativen Lösungen zwang.“

Blick in die Geschichte

Die Rote Wand (rätoromanisch „Madrische“, die Bergmutter) sorgt auf Klesenza für atemberaubend schöne Naturbilder. Doch durch die Alpe Laguz, die ebenso wie Klesenza von ihr dominiert wird, führt auch der alte, von Hall in Tirol kommende Salzweg über Garmil, Partnum, Stein, Sonntag und Fontanella in den Bregenzerwald. Nachdem die Walser der Parzellen Omesberg und Zug früher ihre Pfarrkirche in Nüziders hatten, folgten sie ebenfalls diesem Weg.
Die alten Transitrouten – immer auf der Höhe, niemals, wie heute, im Talgrund – eröffnen den Blick in die Geschichte. „Eine interessante Besonderheit weist die Alpe Unterpartnum auf, und zwar insofern, als dort – abweichend von der üblichen Bauweise – sehr breite und niedrige Hütten mit tief heruntergezogenem Satteldach anzutreffen sind. Diese ursprünglichere Hüttenform (möglicherweise aus dem 17. oder 18. Jahrhundert) ist bei den späteren Hütten zugunsten der Material sparenden, zweigeschossigen Bauweise verlassen worden.“

Walserhaus?

Peers vorrangiges Interesse gilt dem Walserhaus. Aber gibt es das überhaupt? Der Architekt Bruno Spagolla, ein Kenner der Walser Bauten, wiegt skeptisch den Kopf. Die Unterschiede lokaler Traditionen zu jenen etwa im schweizerischen Wallis, in Bosco Gurin oder Ernen, am Simplon oder in Disentis, sind beträchtlich. Häufig ist im Großen Walsertal allerdings der Paarhof, bestehend aus Wohnhaus und Wirtschaftstrakt. Ein Beispiel dafür ist „Parblons 13“, ein Hof, der im Kern aus dem 17. Jahrhundert stammen dürfte, wobei nur mehr das Wohnhaus existiert. Es hat ein gemauertes Erdgeschoss und ein in Blockbauweise errichtetes, verschindeltes Obergeschoss unter flachem Satteldach. Signifikant sind die geschwungenen Pfettenköpfe, die stirnseitig verbrettert und seitlich verschindelt wurden. Von hohem handwerklichem Können zeugt der raffinierte Übergang der Verkleidung dieser Pfettenköpfe. Ein solches Haus – und Peer hat diese denkmalgeschützten oder schützenswerten „Walserhäuser“ penibel aufgelistet – wird durch eine Laube betreten. Von hier aus gelangt man in die Küche, Stube und Nebenkammer. Darunter liegt der Keller.

Bildformen, die ein Kind prägen

Die Scheunen, die zu so einem Paarhof gehören, sind ebenfalls gemauert mit einer darüber liegenden Holzkonstruktion. Dabei werden gerne hölzerne Gitter in die Lüftungsöffnungen eingesetzt. Die Diagonalstruktur dieser Gitterstäbe gehört zu den, in meinem Fall, ein Kind prägenden Bildformen. 
Drei Architekturbüros haben sich eingehend und liebevoll mit diesen Bautraditionen befasst: zum einen Bruno Spagolla, der den Menschen im Walsertal auch in seinem Alltag verbunden ist, zum anderen Hermann Kaufmann, der mit dem neuen Gemeindezentrum für Raggal den Ortskern funktional enorm aufwertete, und schließlich das Büro Cukrowicz-Nachbaur, das sich auch intensiv mit Forschungsfragen beschäftigt.
Dieses Büro hat mit dem Gemeindezentrum von St. Gerold der dominanten Propstei gegenüber eine Torsituation für das Ortszentrum geschaffen, einen Bau, der zwischen den verschiedenen Ebenen vermittelt und auf die Dynamik seiner inneren Organisation verweist, die Kultur der Trockenmauern einbezieht, mit seiner Biomasseheizung mehrere Objekte mit Wärme versorgt und auf Bruno Spagollas technologische Kühnheit des Bauens mit Weißtanne zurückgreift.

Kluger Blick für das Detail

Denn eigentlich möchte man noch einmal Schulkind sein, um in die von Bruno Spagolla geschaffene Schule in Blons zu gehen, deren Fenster je ein exaktes Bild dieser atemberaubenden Kulturlandschaft rahmen. Eigentlich möchte man in diesem Ortszentrum Fitness machen, ein Glas mit Freunden trinken und sich in die dramatische Geschichte – die im Gemeindezentrum dokumentiert ist – vertiefen. Es ist eine Geschichte sehr stiller, sehr kreativer, sehr aufmerksamer Menschen. Johann Peer hat sie an ihren Gebäuden dokumentiert – und man muss seiner Vorliebe für Bildstöcke nicht folgen, um der enormen Leistung seines klugen Blicks für das Detail folgen zu können.

 

Johann Peer, Kulturlandschaft Großes Walsertal, Bucher Verlag, Hohenems 2011, 316 Seiten, € 37,00, ISBN 978-3-99018-019-8