Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Ingrid Bertel · 17. Sep 2013 · Literatur

Papierdünne Muschelspitzen im Gezeitenschaum - „Die Muschel“ ein Erzählband von Franz Kabelka

In bislang vier Krimis gelangen Franz Kabelka lakonisch-präzise Momentaufnahmen der Vorarlberger Realität. Doch sein Tone Hagen verlor zunehmend die Lust am Ermitteln. Folgerichtig legt Kabelka nun einen Band mit fünf Erzählungen „von Reisen und Zeitreisen“ vor; sie spielen großteils auf Inseln in der Ägäis und Karibik und verführen zum Träumen ebenso wie zum Nachdenken.

Karl Schlüter ist ein Modefotograf aus Mecklenburg-Vorpommern, der die allsommerliche Urlaubshölle auf Kerkyra mit Anstand hinter sich zu bringen sucht. Einen Stockfisch nennt ihn seine Frau Hilde. „Na ja, ist doch sehr haltbar, hat er geantwortet, Stockfisch war nicht von ungefähr und über Jahrhunderte ein bedeutendes Nahrungsmittel. Aber eine stinklangweilige Kost, sagte sie, wie du.“
Hilde hat ja keine Ahnung! Während sie mit ihrer Schwester Ulla am Strand brät, erlebt ihr Mann Abenteuer. „Er stellt fest, dass nicht nur die Schönheit des ewig Weiblichen einen unwiderstehlich hinanzuziehen vermag, sondern auch das ganz und gar Hässliche des Männlichen…“

Freudenlos stilles Muscheltier


Franz Kabelka ist ein Reisender, der sich am liebsten auf Nebenwege, Alltäglichkeiten, kleine Exkurse einlässt. Er sucht nicht das Pittoreske, sondern die bröseligen Ränder. Das verankert seine Figuren in einem mit trockenem Humor ertragenen Alltag und verleiht seinen Erzählungen den Kick der Entdeckerfreude. Paul zum Beispiel, Computerfachmann mit allergischer Reaktion auf Reiseführerpathos, verbringt seinen Urlaub auf Rhodos mit der Lektüre von Grillparzer, dem „österreichischen Schwarzseher vom Dienst“, weil er herausfinden will, ob „Sappho“ im Herkunftsland der Titelheldin weniger frustrierend wirkt als damals in der Schule. Vor Ort interessieren ihn außerdem noch Müllhalden, Motocrosshirten und Waldbrände. Und das Schnorcheln, zu dem ihn Strandnachbar Charles Vincent allerdings erst mühsam überreden muss. Aber dann packt Paul die Leidenschaft, geradezu „psychedelische Erfahrungen“ macht er unter Wasser: „Dank der Fische hat er wieder Staunen gelernt“ – wird dabei nur leider übermütig, und das bekommt weder ihm noch der titelgebenden Muschel.

„Vom freudenlos stillen Muschelthier hat Franz Grillparzer einmal in einem Gedicht geschrieben. Das Tier wird darin dem an der Welt leidenden Dichter gleichgesetzt. Paul hingegen durchlebt ein anderes, nicht minder deprimierendes Leiden: das Leiden an der Muschel, an seinem schal gewordenen Schatz. Erneut fällt ein kleiner Klumpen fauliger Masse aus ihr heraus, und die klebrige, dunkle Flüssigkeit tropft ihm auf die Finger: Leichensaft!“ Leichen liegen auch auf der Straße, vor einem Obststand – irgendwo rührt sich der Krimiautor in Kabelka. Erst recht in der Erzählung „Rum“, in der eine blonde Italienerin ermordet wird. „Die Italienerin mit den Monroe-Locken, inmitten pinkfarbener, papierdünner Muschelsplitter, und den Resten von Gezeitenschaum. Ob auch sie diese Symbole der Zerbrechlichkeit gesammelt hat, sie wie ein Kind retten wollte vor der Wucht und dem Druck der anbrandenden Jahrmillionen?“

Puppenheim auf Zakynthos


Die beiden Journalisten, die einander in inniger Abneigung verbunden sind, werden es nicht herausfinden. Mit dem Schulsystem auf dieser von Touristen gemiedenen Karibik-Insel beschäftigt sich der eine, mit dem Schwarzmarkt der andere – Spurensuche nach der Geschichte an geschichtsvergessenem Ort. Oder an einem, der Geschichte nur in pathetischen Leerformeln kennt. Anna erzählt von den Sandinisten. Nora, Reiseleiterin in einer Touristenschwemme namens Zakynthos hört ihr zu. „Eitel sind sie alle, die Herren und Damen Revolutionäre. Das sagt mir meine Lebenserfahrung, das verraten mir Annas Geschichten. Ohne bewundert zu werden sind Revolutionäre nichts.“
So leicht ist Anna aber nicht zu knacken. Wenn’s um die Deutungshoheit geht, liefern sich die beiden allemal ein Match: „Ach Nora, verlass dein Puppenheim…“
Goethe, Grillparzer, Ibsen – Kabelka beschwört die Literatur, um sich der Gegenwart zu vergewissern, aber die Literatur liefert zwar schöne Bilder und berückende Einsichten, nur hilft sie nicht über das Leiden an einer Gegenwart globalisierter Vermüllung.

Kuba ohne Son


Ein Traum muss her, und sei’s ein Science Fiction Alptraum. Ed und John meiden die New Yorker Gegenwart. John sammelt altes Zeug und Ed alte Wörter. „Wenn, wie seitens des Baptistenpastors, der nun schon zum zweiten Mal Präsident geworden war, ungeachtet der nicht enden wollenden Massaker in Schulen und Kindergärten ständig von den Monitoren gepredigt wurde, dass es das höchste und heiligste Recht jedes US-Bürgers sei, sich mit Waffen aller Art einzudecken, wieso sollte man dann einen Bürger von Amts wegen davon abhalten, sich selbst umzubringen?“

Der Tod eines Fischers bringt Ed in „State 52“ in eine Gegend, die „bis vor gar nicht so langer Zeit ein selbständiger Staat gewesen war“. Hemingway, bunte Autos, wundervoller Kaffee und vor allem: unglaubliche Musik – das alles gibt es in State 52 nur noch bei den ganz alten Leuten. Die haben das Kuba der Castro-Brüder noch erlebt. Gut, ein bisschen viel Klischee und PC-Empfinden macht sich da breit, aber so wie Kabelka die sandinistische Revolution reflektiert, so sucht er auch in der kubanischen Gegenwart ein differenziertes Bild zu zeichnen, eines, das den Überschwang nicht einfach abstreift wie ein verblichenes T-Shirt. Warum wird Kuba zum State 52? Und warum wurden die Sandinisten ganz einfach abgewählt? Kabelka lässt in seine Insel-Geschichten eine kräftige Dosis unangenehmer Fragen einfließen. Gibt es eine politische Haltung, die geeignet ist, das Vertröpfeln des humanitären Elans aufzuhalten? Gibt es eine menschliche Haltung, die die Augen immer neu öffnet für das andere und den anderen? In den böhmischen Miniaturen, die Kabelka seinen Insel-Erzählungen folgen lässt, findet sich dazu ein wunderbarer Satz: „Sei vorsichtig, was du denkst, sei behutsam in dem, was du sagst – du gehst durch ungemähte Wiesen.“

 

Franz Kabelka, Die Muschel. Geschichten von Reisen und Zeitreisen, ISBN 978-3-902693-47-1, edition moKKa, Wien 2013