Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Markus Barnay · 15. Jän 2023 · Literatur

In Widersprüchen verfangen – Tobias Engelsings spannende und berührende Biografie über seinen Vater

„Ich gestehe offen, daß ich geweint habe, als ich den Bodensee und den Säntis im Herbstlicht wiedersah“, schrieb Herbert Engelsing im September 1948 an seine Frau. So sentimental waren seine Botschaften nicht immer, aber jetzt befand er sich in einer prekären Situation: Seine Familie war nach Kalifornien ausgewandert, er selbst war bei einem ersten Versuch, in der Filmwelt von Hollywood Fuß zu fassen, gescheitert, außerdem bekam er gerade größere Schwierigkeiten mit den amerikanischen Behörden.

Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt, und die war durchaus widersprüchlich: Einerseits hatte der in Aachen aufgewachsene Sohn eines Apothekers in der Weimarer Republik eine glänzende Karriere als ein dem neuen demokratischen System verpflichteter Jurist gemacht, andererseits hatte er versucht, diese durch die Machtergreifung der Nazis jäh unterbrochene Karriere fortzusetzen, indem er vorübergehend der NSDAP beitrat. Schließlich hatte er, als er erkannte, dass er die juristischen Ansprüche eines Regimes nicht erfüllen konnte, das jedes Recht der nationalsozialistischen Ideologie unterwarf, sein Amt als Richter aufgegeben, war aber erst wieder in den Einflussbereich des obersten Propagandachefs Josef Goebbels geraten. Herbert Engelsing hatte nämlich in die Filmbranche gewechselt, wo er zuvor schon als Jurist beratend tätig gewesen war, und wurde zum Produktionsleiter und „Herstellungsgruppenleiter“ von Unterhaltungsfilmen fürs Kino. Heinz Rühmann, Gustaf Gründgens, Paula Wessely und Heinrich George hießen die Stars, mit denen er arbeitete, Stars, die großteils keine Scheu hatten, sich den Bedingungen des NS-Regimes zu unterwerfen. Bedingungen, die nicht nur „Rassereinheit“ und politische Gefolgschaft hießen, sondern die auch sämtliche Filme den Vorgaben der NS-Propaganda unterwarfen. Auch wenn es keine hetzerischen Machwerke wie „Jud Süß“ waren, transportierten sie die einschlägige Ideologie oder dienten schlicht der Ablenkung vom Krieg („volksberuhigende Unterhaltung“ nannte das Goebbels).

Zwischen Anpassung und Widerstand

Herbert Engelsing unterwarf sich bei seiner Arbeit den herrschenden Bedingungen – und unterstützte zugleich privat den Widerstand gegen das Regime: Er umgab sich mit Menschen, die ähnlicher Gesinnung waren, ermöglichte in seinem Privathaus konspirative Treffen und stellte jüdischen Bekannten, die auf der Flucht waren, sein Ferienhaus als Unterschlupf zur Verfügung. Dass er selbst eine – in der NS-Diktion – „Halbjüdin“ heiratete, war da eigentlich nur noch ein weiterer Aspekt eines nicht ganz regimekonformen Lebens. Ermöglicht hatte die eigentlich verbotene Hochzeit ein Studienkollege aus Aachen, der im NS-Staat bis in höchste Ämter aufgestiegen war: Hans Globke, später umstrittener Ministerialdirektor von Bundeskanzler Konrad Adenauer, hatte im Innenministerium ausgerechnet an Gesetzen zur Ausgrenzung und Verfolgung von Juden mitgewirkt.
Als dramatische Ironie des Schicksals erwies sich aber dann Herbert Engelsings Verbindung zur Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, mit deren führenden Köpfen er und seine Frau Inge eng befreundet waren: Als die Gruppe von der Gestapo ausgehoben und in einem geheimen Prozess vom Reichskriegsgericht in Berlin abgeurteilt wurde – mindestens zehn der Angeklagten aus ihrem Freundeskreis wurden zum Tod verurteilt und hingerichtet –, kamen die Engelsings mit viel Glück ungeschoren davon. Doch wenige Jahre später wurde die frühere Verbindung zur „Roten Kapelle“ zum Sprengstoff für ihre Ehe und Engelsings berufliche Zukunft: Als er mit seiner Familie zwei Jahre nach Kriegsende in die USA übersiedeln wollte, wohin Inges Eltern und Geschwister schon vor dem Krieg geflohen waren, unterstellte ihm die CIA, die einstige Widerstandsgruppe als konspirative, moskauhörige Zelle in Konstanz weitergeführt zu haben. Dorthin hatte er nämlich zu Kriegsende zunächst seine Familie evakuiert, um dann selbst zu flüchten. Er eröffnete ein Rechtsanwaltsbüro und war dank seiner Französischkenntnisse und Verbindungen mit der französischen Besatzungsbehörde schnell gut im Geschäft. Doch ausgerechnet ehemalige Gestapo-Beamte, Folterer und NS-„Abwehr“-Spezialisten denunzierten ihn jetzt – in Kooperation mit Spitzeln der Schweizer Bundespolizei (!) – als „Schläfer“ in Moskaus Diensten. Die Fäden zog dabei die sogenannte „Organisation Gehlen“, ein Nachrichtendienst unter Aufsicht des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, die nach ihrem Chef Reinhard Gehlen, einem ehemaligen Wehrmacht-General, benannt war.

Späte Liebe mit kurzer Dauer

Herbert Engelsing bekam jedenfalls kein Dauer-Visum für die USA, fand dort auch keinen beruflichen Anschluss, verlor zunehmend den Kontakt zu seiner Familie und blieb schließlich in Konstanz, wo er 1960 noch einmal heiratete. Aus der späten Liebe zu seiner 31 Jahre jüngeren Sekretärin entsprang ein Sohn, der heute die Städtischen Museen von Konstanz leitet und der in mehrjähriger Arbeit die gleichermaßen eindrückliche wie aufregende Biografie seines Vaters rekonstruierte. Tobias Engelsing hatte das Glück, dass er auf einen umfangreichen Nachlass mit Korrespondenz, Aufzeichnungen und sogar ein autobiografisches Buch der ersten Frau seines Vaters zurückgreifen konnte. Doch tauchte er auch tief in die einschlägigen Archive ein, wie man den Anmerkungen und vor allem der Danksagung entnehmen kann. Außerdem führte er noch rechtzeitig etliche Gespräche mit Überlebenden. Mit seinem Vater konnte er das nicht mehr. Der starb im Februar 1962, als Tobias gerade 16 Monate alt war.
War Herbert Engelsing „Mitläufer oder Mann des Widerstands?“, fragt sein Sohn auf dem Klappentext des Buches – und gibt gleich selbst die Antwort: „Mein Vater war beides.“ Engelsing junior gelingt es mit seinem Buch, die nötige Distanz zu halten, und das Verhalten seines Vaters weder zu verherrlichen noch zu verdammen. Er war, so stellt man nach Lektüre des Buches fest, ein Gefangener seiner Zeit, und doch, wie der Titel des Buches lautet, „Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet“. Engelsings Buch beginnt übrigens nicht nur am Bodensee, es endet auch ganz in der Nähe: Sein letzter Auftrag als Anwalt vor seinem Tod hatte ihn ausgerechnet nach Lindau geführt. Dort vertrat er 1961 die Besitzerin der Künstlerkneipe „Zur Fischerin“ in einem Prozess. Ihr wurde vorgeworfen, das Bildnis eines Metzgers, das in ihrer Galerie ausgestellt war, habe ehrverletzende Ähnlichkeit mit dem damaligen CSU-Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Als Zeugen der Verteidigung nominierte Engelsing einen alten Mandanten vom Untersee: den berühmten Künstler Otto Dix. Engelsing gewann den Prozess.

Tobias Engelsing: Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet. Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand. Propyläen Verlag, Berlin 2022, Hardcover, 448 Seiten, ISBN: 9783549100264, Euro 25,70