Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Anita Grüneis · 22. Jän 2023 · Literatur

Das neue Buch „Entwürfe“ – welches Land soll Liechtenstein sein oder werden?

„Liechtenstein erzählen“ – so der Titel eines Projektes, dessen Ziel es ist, Einblicke in Liechtensteiner Lebenswirklichkeiten zu geben, die weder in Zeitungen und Reden noch in Statistiken und Umfragen vorkommen. Vielmehr sollen „Hoffnungen, Gefühle, Wünsche, Enttäuschungen, Familiengeschichten und persönliche Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden“, so formulieren es die Projektinitianten Roman Banzer, Hansjörg Quaderer und Roy Sommer auf ihrer Website. Im November 2022 wurde der dritte Band mit dem Titel „Entwürfe“ herausgegeben.

In den ersten beiden Büchern wurden Ereignisse der Vergangenheit geschildert: „Demokratische Momente“ beinhaltet zwanzig Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die vom mühsamen Ringen um das Frauenstimmrecht in Liechtenstein, vom Wunsch nach politischer Veränderung und vom langen Weg zur Gleichberechtigung berichten. In „Aufbrüche“ befassen sich neunzehn Personen mit „gewagten“ Lebensentwürfen. Dabei steht die Chiffre 1968 nicht nur für eine neue Jugendkultur, sondern auch für den Aufbruch verkrusteter Strukturen, die auch in der Provinz für Erschütterungen sorgte. Das dritte Buch „Entwürfe“ vereint Gegenwart und Zukunft, eine in erster Linie junge Generation schildert darin ihre Sicht auf das Land Liechtenstein verbunden mit Wünschen und konkreten Vorstellungen bezüglich Veränderungen. Die Themen reichen von Chancengleichheit, Klimazielen, Biodiversität, Verkehr, Kulturförderung bis hin zum Bildungswesen. Dazu wurden 34 Personen zu ihrer persönlichen Meinung interviewt sowie zehn Personen zur Realpolitik in den Ämtern.

Reich und konservativ

Bei der grundsätzlichen Sicht auf das Land Liechtenstein kommt immer wieder der Reichtum zur Sprache, aber auch die Angst vor der Armut. So meint der 24-jährige Giandrin Caderas: „Momentan sind noch Leute mit den alten Werten an der Macht, weil es nicht viele Generationen her ist, wo der Sonntagsbraten normal war und man keine Heizung hatte – ich glaube, diese Angst ist irgendwo noch da und verhindert Veränderung.“ Von Veränderungen träumen viele und wünschen sich Liechtenstein als Vorzeigestaat. Die 34-jährige Sandra Maier ist überzeugt: „Ich meine, wir könnten ein Vorzeigeland für die Welt sein. Aber wir sind eine Casinolandschaft und das ist peinlich. Wir sind in einigen Dingen noch so veraltet. Viele junge Menschen, die nachkommen, denken leider so wie die alten Generationen: Geld haben, einen Boden haben. Aber wenn die Guten nicht müde werden, sich zu engagieren, kann auch etwas Schönes passieren.“ Dieser Meinung schließt sich die gleichaltrige Isabel Wanger an: „Liechtenstein ist außerdem ein kleiner Staat, wir könnten gewisse Dinge einfacher bewerkstelligen als die Großen und eine Modellfunktion für andere Länder in Europa einnehmen. Gerade wenn man den sozialen Bereich anschaut. Darauf können wir viel unmittelbarer einwirken: die Gleichstellung der Geschlechter zum Beispiel. Das wäre etwas Simples und könnte auch in Schulen ein wichtiger Punkt sein. Warum schreibt man so etwas nicht ins Gesetz? Und wie sieht es eigentlich mit dem Vaterschaftsurlaub aus? Oder mit dem bedingungslosen Grundeinkommen?“

Man ist sehr nett

Immer wieder werden auch Änderungen im Bildungssystem gewünscht. Dazu hat die 29-jährige Lisa Frick recht konkrete Vorstellungen: „Wenn man in einer Schule zu Mittag isst, wieso nicht gemeinsam Gemüse dafür anbauen und kochen und gleichzeitig etwas über Ernährung lernen. Oder den Strom produziert man durch gemeinsam montierte Solarzellen und lernt etwas über Elektrik. Ich finde, es wäre ein absolut erstrebenswertes Ziel, alles in absoluter Selbstverwaltung zu organisieren und etwas Autarkes zu erschaffen.“
Ein weiteres wichtiges Thema für die Interviewten ist die Klimapolitik. So meint der 20-jährige Tobias Gassner, Mitbegründer der Klimastreiks in Liechtenstein: „Ich hab aus diesen Erfahrungen auch etwas über Liechtenstein gelernt: Man ist immer sehr nett, aber eben auch immer total konservativ. Ändern möchte man grundsätzlich nichts – und macht man trotzdem mal irgendetwas, hat man das Gefühl, das würde schon reichen. In Liechtenstein fehlt es am Glauben, dass Veränderungen umsetzbar sind.“ Damit spricht er an, was viele andere ebenfalls betonen: Ideen wären genügend da, es fehlt an der Umsetzung. So werden vielfach fehlende Radwege moniert. Die 26-jährige Noemi Lind hätte am liebsten einen „Veloweg durch das ganze Land, ähnlich wie es in Kopenhagen umgesetzt wurde“. Sie hofft aber auch, dass sich das „Unkomplizierte“ nie ändern soll in Liechtenstein: „Ich kann mit meinen Anliegen direkt zum Gemeinderat gehen und werde ernst genommen. Jeder hat Glück, hier aufwachsen zu können. Hier ist es heimelig und behütet, fast wie in einer ,Golden Bubble’.“ Aber das genau sei manchmal auch das Problem, deswegen fordert sie „Persönlichkeiten, die ,out of the box’ denken.“

Vorreiter für Neuartiges

Liechtenstein kann aber durchaus Vorreiter sein. So wurde am 1. Januar 2020 das weltweit erste Gesetz zur Nutzungsregulierung der Blockchain-Technologie, kurz TVGTG, in Kraft gesetzt. Dazu schreibt der 46-jährige Thomas Dünser: „Wir haben erkannt, dass diese Technologie die Welt verändert [...] Das SOS Kinderdorf hat mich gefragt, wie man mit Blockchain ihre Prozesse sicher machen könnte. Meine Antwort: Auf Knopfdruck kannst du beispielsweise ein Bankensystem aufbauen, dass du jemandem Geld direkt überweist, ohne dass du eine Bank brauchst, ohne dass du einen Intermediär brauchst, der dazwischen hockt, du kannst kontrollieren, wie das Geld eingesetzt wird, die Blockchain Technologie schafft dir Möglichkeiten, die wir bis jetzt nicht gehabt haben, nicht einmal ansatzweise. Blockchain ist eine Riesenmöglichkeit gegen Missbrauch und Korruption [...] Blockchain ist die Möglichkeit des mittelalterlichen Tauschhandels, du gibst mir einen Apfel, ich geb‘ dir ein Ei.“
„Entwürfe“ ist ein kurzweiliges und manchmal auch amüsantes Buch. So wünscht sich der 65-jährige Roman Banzer ein Liechtenstein, das bekannt ist als „freundliches, großzügiges, herzliches Land, das nach Gerechtigkeit strebt und glückliche Enkel hat, die zur ,Nana‘ sagen: ,Weißt du was? Ich werde ein glücklicher Mensch. Jetzt werde ich Clown.‘“ Und der 35-jährige Musiker und Kabarettist Moritz Schädler setzt in seiner Erzählung einen heiteren Schlusspunkt: „In Liechtenstein gibt es keine Perspektiven, weil man von überall aus die Grenzen sieht; und: Patriotische Liechtensteiner schauen immer auf den Boden, weil sie nur Liechtenstein sehen wollen.“

Entwürfe. Liechtenstein erzählen 03, Hrsg. v. Roy Sommer, Hansjörg Quaderer, Roman Banzer. Limmat Verlag, Zürich 2022, Leinen bedruckt, ISBN 978-3-03926-037-9, 216 Seiten, EUR 42