Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Florian Gucher · 06. Jän 2023 · Literatur

Gerald Hüther und Robert Burdy: „Wir informieren uns zu Tode“

Dass wir im digitalen Zeitalter von Informationen und Botschaften überschwemmt werden, ist längst kein Geheimnis. Doch die daraus erwachsenden Gefahren scheinen problematischer als vermutet. In ihrer neuen Publikation mit dem sprechenden Titel „Wir informieren uns zu Tode“ versuchen Gehirnforscher Gerald Hüther und Publizist Robert Burdy ein wenig Licht in den Dschungel zu bringen und das mit durchaus interessanten, fesselnden und wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen mit Aktualitätsgarantie.

Ein Buch, das auf sachlicher Ebene erläutert, wie die heutige Informationsflut zu Orientierungsverlust führt und in Manipulation, Radikalisierung und Schubladendenken mündet und was es bedarf, um dieser bedenklichen Entwicklung entgegenzutreten.

Wenn die Zeit zum Denken fehlt

Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Seit die digitale Revolution die Welt im Würgegriff hält, ist nichts mehr so, wie es war. Die Lebenswelt ist schnelllebiger geworden und aufgrund der ständigen Abrufbarkeit von Informationen, wurde das Warten zur Qual. Wo die Zeit fehlt, ist das Bedürfnis nach Bestätigung bekannterweise groß. Ein übersättigter Informationsmarkt kreiert keine Wissensgesellschaft, sondern raubt paradoxerweise den Mut zur eigenen Meinungsbildung. Aus diesem scheinbar ausweglosen Labyrinth möchten Hüther und Burdy in „Wir informieren uns zu Tode“ Schritt für Schritt herausleiten, indem sie neben der Ursachenforschung zeigen, wie wichtig es ist, auf das zu bauen, was uns lebendig und menschlich macht. Denn nicht zuletzt gleicht sich der Mensch durch die Abtrennung von Fühlen, Denken und Handeln immer mehr den Verhaltensweisen einer Maschine an. Nur allzu viele lassen sich aus der Orientierungslosigkeit heraus fremdbestimmen. Bedenklich wird es dann, wenn Expert:innen Thesen untermauern, die nicht zu viel Tiefgang haben sollten, um anzukommen, und absichtlich in eine Richtung lenken. Die klare Position wird der Wissenschaft vorgezogen, da sie von allen Zweifeln abbringt und vor allem eines: Halt gibt. Doch diese Sicherheit ist bei genauerem Hinsehen auf wackeligem Fundament gebaut. Noch dazu entpuppt sie sich als wahre Bedrohung gefestigter Demokratien. Emotional aufgepumpte Nachrichten überschatten nicht selten die wirklich tiefgründigen Botschaften und lassen sie im Sumpf untergehen. So ist das Netz voll von Fake-Wahrheiten, Stereotypisierungen und schwarz-weiß gemalten Geschichten, wobei die zuverlässige Info mit derselben Intensität einprasselt wie die manipulativ verbreitete Nachricht. Diese beiden Pole auseinanderzudividieren ist schwerer denn je, wenn nicht sogar in vielen Fällen unmöglich geworden.

Bewusstseinsbildung als A und O

Hüther und Burdy gehen nun auf wissenschaftlicher Ebene unvoreingenommen der Frage nach, wie Orientierung im Zeitalter der Überflutung funktioniert, aber auch wie das Orientierungsdefizit von so manchen Instanzen ausgenutzt wird. Als ein „Befreiungsversuch für verwickelte Gehirne“, wie der Untertitel des Buches suggeriert, versuchen die beiden Autoren, unsere in der Botschaften-Flut des Internets verseilten Gedanken wieder zu entspinnen. Sie pochen auf Rückbesinnung und erklären die digitale Welt wenn auch nicht zum Untergang der Menschheit, zumindest als ein Parkour voller Risiken. Insbesondere geht es darum, Wege eines möglichen Umgangs mit der Datenflut aufzuzeigen, ohne auf die unbestrittenen Vorteile der digitalen Verfügbarkeit verzichten zu müssen: „Wir wollen den Leser:innen dieses Buches helfen, besser als bisher zu verstehen, wodurch diese Informationsflut ausgelöst wird und welche Folgen sie hat. Und vor allem: dass ihr niemand hilflos ausgeliefert ist. Dass es möglich ist, Dämme zu bauen, die uns davor schützen“, so das Autorenduo. Abgeleitet von vielen neurologischen Thesen und Fakten, treiben sie es munter mit Gedankenspielen weiter, spinnen das Netz von evolutionstheoretischen Erkenntnissen über Charles Darwin bis hin zu sozialpsychologischen Phänomenen wie dem Negativitätsbias, ohne auf trockener Theorie kleben zu bleiben. All das, um verständlich zu machen, wie das Gehirn des Menschen überhaupt funktioniert und welchen Mustern es folgt: „Wie können wir uns von Verwicklungen befreien, die bequeme Wahrheiten wie Informationen aussehen lassen? Die Antwort liegt in uns selbst: Indem wir verstehen, warum unser Gehirn entscheidet, was Information ist und was nicht“, bringen es Hüther und Burdy auf den Punkt.

Begreifen und loslassen, was krank macht

Trotz aller Komplexität zieht sich der rote Faden stets weiter. Denn was das Buch ausmacht, ist – trotz aller Abschweifungen – der Aktualitätsbezug. Zeitgleich ist es die Kombination von faktenbasiertem Fachbuch und hochwertiger Unterhaltungslektüre, die das Werk einzigartig macht. Nur so vollgeladen mit Metaphern, bildhaften Beschreibungen und Vergleichen, schildert es die bittere Realität der fast vollständig digitalisierten Welt, um zu zeigen, dass es einen Weg aus der Falle heraus gibt: „Der Zaubertopf der globalisierten Digitalisierung schüttet auf einen Mausklick, also die digitale Version des Zauberwortes ‚Töpfchen koche‘, seinen süßen Brei auf uns aus. Und der Brei fließt und fließt und wir werden dick und fett und doof davon und können weder aufhören, die klebrige Masse zu verschlingen, noch den Quell der Misere auszuschalten. Wir wissen nicht mal, dass wir gar kein Zauberwort brauchen, um die Flut der süßen Masse, die uns die Gehirne verklebt, zu stoppen. Wir müssen den Brei nur einfach nicht mehr konsumieren, das würde den Zauber brechen“, ziehen Hüther und Burdy in ihrem Buch einen passenden Vergleich zum Märchen „Der süße Brei“ von den Gebrüdern Grimm und transferieren es ins Heute. Dabei sind es eine Menge Aspekte, die das Autorenduo emporholt, um zu demonstrieren, dass die Digitalisierung des Lebens nicht nur auf der Hand liegende Chancen, sondern auch Gefahren birgt, die schlichtweg übersehen werden.
Das Buch öffnet durchaus Perspektiven und strahlt Lichtblicke in die Düsternis hinein. Angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen wie der Pandemie oder der Klimakrise scheint „Wir informieren uns zu Tode“ das ideale Gegenrezept zu sein, um dem Wirrwarr der Täuschungen zu entkommen und den inneren Kompass zu finden, der es ermöglicht, sich erfolgreich einen Weg durch das Informationschaos zu bahnen. So fügt sich das Werk nicht in den apokalyptischen Untergangskanon ein, sondern ist voll von Hoffnung beseelt: Es ist noch nicht aller Tage Abend, der Hebel kann noch in die andere Richtung gedrückt werden.

Gerald Hüther und Robert Burdy: Wir informieren uns zu Tode. Herder-Verlag, Freiburg 2022, 240 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-451-60900-8, EUR 23,50