Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Ingrid Bertel · 30. Nov 2011 · Literatur

Immer Ich oder: Wer ist Alissa Walser?

Ein berühmter Schriftsteller als Vater ist für die Tochter schon mal ein Problem. Wenn sie Malerin wird – bitte, man wird ja sehen. Wenn sie aber auch noch schreibt, und zwar gut, wenn sie brillant ist und schön, dann wird es echt schwierig für sie. Alissa Walser trotzt dieser Situation mit einer langen Erzählung unter dem ebenso trotzigen Titel „Immer ich“.

Wer ist Alissa Walser? Ein unsicheres Kind, dem ein Onkel beibringt, die Schuhe zu binden? Ein orientierungsloses Mädchen, das Weihnachten in New York feiert? Dort, wo man auch noch am 24.12. spontan ein Klavier kaufen kann? „Er nimmt etwas aus seiner Tüte. Schwarz lackiert, goldene Rädchen, zierliche Holzbeine, ein kleiner Schlüssel. Ein Miniatur-Flügel. Guten Abend, gute Nacht, spielt die Spieluhr, wenn man sie aufzieht. Das klingt in Brooklyn wie in Frankfurt und ist immer Made in China.“ Das Klavier als Schlüsselanhänger ist für Alissa. Das echte Klavier ist für Nina. Alissa könnte allerdings auch Mona heißen oder Fred. Wer ist Alissa? „… eigentlich wünsche ich mir ein Paar Augen, in das ich jeden Tag wenigstens eine halbe Stunde lang hineinschauen kann. Und zwar zentralperspektivisch.“

In einem anderen Leben

Alissa Walser ist eine Autorin, die alle Qualitäten einer Malerin hat: den genauen, ins Detail gehenden Blick, das Erfassen einer Komposition, eines überraschenden Farbenspiels, der Materialität des Gegenwärtigen. Dennoch ist alles in ihrer Erzählung ein bisschen abstrakt, ein bisschen in die Karikatur, ins Cartoon gedreht, friert fest in einer malerischen Szene. „In einem anderen Leben“ versucht sich die Autorin als impressionistische Malerin an der Seite von „Camille, Edgar, Edouard, Puvis, Georges, Jean und Claude: Ob man selbst auch so leuchtet?“
Alissa Walser fängt die Stimmungen impressionistischer Bilder, den Augenblick – und das Hinfällige des Augenblicks, den Moment der Trauer in einer blühenden Mohnwiese – derart perfekt ein, dass man glaubt, in diesem schnell sich verflüchtigenden Leben zu atmen. Es verlangt Mut und Selbstbewusstsein, so zu schreiben, so schrankenlos sich in die Geschichte einzufügen, in das Fließen der Gesellschaft, in das Wahrnehmen dessen, was für einen Moment wichtig sein mag. Ist es dieses Flüchtige, das uns noch heute am Impressionismus fasziniert? Und zwar ohne dass wir dessen Technik- und Fortschrittsgläubigkeit teilen?

Ein japanischer Bogen

Manchmal wird Alissa zu Mona. Dann geht sie zu einem buddhistischen Trainer, weil ihre Schultern verspannt sind. „Wenn ich vor dem Spiegel stehe und die Arme hängen lasse. Dann sehen sie aus wie die traurigen Hälften eines japanischen Bogens“. Mona ist eines dieser Design-hörigen Geschöpfe, die dennoch in ihrem Körper verharren müssen. So wie wir. Und kein Chris kann Erlösung bringen.
Schönheit an der Kippe zum Witz, Lebendigkeit, die an den Klippen der vorgefertigten Bilder zerschellt, Wahrnehmung, die immer schon im Wahrgenommen-Werden gefangen ist – davon erzählt Alissa Walser. Nie ist das Private persönlich, immer geht das Eigentliche in der Bilderwelt auf. Es sind traurige, schöne, elementare Gedankenbilder.

 

Alissa Walser, Immer ich, Piper Verlag, München 2011, 157 Seiten, € 17,50, ISBN 978-3-492-05460-7