Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Ingrid Bertel · 04. Jun 2019 · Literatur

Günther Sohm – „Pitralon. 99 Einzelheiten“

Nach zwei Alben mit legendären Songs zeigt Günther Sohm nun in 99 Erzählungen Wege aus der Sackgasse des ganz normalen Alltags.

In einem der Mundartlieder Günther Sohms ist von einem Seitental die Rede, wie sie „bi üs“ im ganzen Land zu finden sind. Es geht bergauf und wird immer enger, und plötzlich hört das Tal überhaupt auf. Es ist naturgemäß ein geistiges Seitental, von dem die Rede ist, und Sohm zeigt in seinen Songs immer wieder Auswege aus der geistigen Enge - unnachahmlich witzig-melancholisch und mit einem stupenden Sprachbewusstsein. Zur Mundart, seiner Muttersprache, hat er ein geradezu zärtliches Verhältnis, „obwohl dô Vattr eigntle meh gredat heat“. Und weil er seine 99 jeweils exakt zweiseitigen Erzählungen in Mundart geschrieben hat, hat er sich dafür eine eigene „Rechtschreibreform“ ausgedacht. Das liest sich etwa so:
„Alte Traditiona siond meischtns a saublöde Gwóhnat.“
„Viel rennô und turna füllt Gräbôr und Urna.“
„Wer im dichtô Pulk anar Meute nóchrennt der sioht sealbr blöß an Huufô Ärsch.“
Eine lustvolle Nähe zum Kalauer ist diesen Geschichten eigen, etwa wenn es um die „krassen“ Frühlingsgefühle der Dichter, die zurückhaltenden Einschätzungen der „Agronomen“ und das eigene Empfinden geht: „Ich fröu me jedsmól wiedr brutal ufô Früohling ou wenn ma nio gnau woaßt was uom i däm nó blühô künnt.“

Anstand

Zentrales Thema vieler Geschichten ist der (fehlende) menschliche Anstand, den Sohm in praktisch jeder Alltags-Situation ausmacht – im Stadtbus wie im Restaurant oder beim Sport, vor allem aber Tieren gegenüber. Denn Sohm ist ein leidenschaftlicher Tierfreund, der sich mit seinem Kater Philipp zusammen „a klä dFüoß vertreatô“ geht und glücklich ist, wenn die Stare jedes Jahr zu ihm zurückkehren: „ich fröu me natüürle wenn der Migrant total happy vor dearô Behausung ufôm Stängele hockat“.
So zart Günther Sohm gegenüber Tieren empfindet, bei Menschen wird er zum Realisten – allerdings einem verspielten. Als er in London von einem Junkie überfallen wird, zieht er die Mundharmonika aus der Jacke und bläst ihm „so guot wione künnô hio des Liod vôm Tod is sGsicht“.

Reisen

Überhaupt ist viel vom Reisen die Rede – nach Paris oder Amsterdam oder aber ins Land der Salamibäume. Beim Lesen solcher Geschichten läuft ein Film vor dem inneren Auge ab. Sohm hat ein unglaubliches Talent für starke Bilder, einen Fluss, an dem entlang man in Träume gerät. Da kann der Ausgangspunkt getrost eine Erinnerung sein, zum Beispiel ein Familienfoto: „reachts höcklat in am ‚Rüschôklöadle mit am uufgspanntô Sunnôschirmle zfriodô di pummelig Elsa“ … und Amèlie winkt aus ihrer fabelhaften Welt herüber. Doch bevor zu viel Idylle die Szene verklebt, erwähnt Sohm eine „himmltraurig wüöschte Braut wio justament us ar Goaschtrbah ussar“.
Die derbe Rede verweise auf überdurchschnittliche Intelligenz, betont er, und das Fluchen habe einen „therapeutischô Effekt wo se positiv uff die ganz Psyche vô uonôm uuswirkt“. Wissenschaftlich gesehen hat er Recht. Denn die neurobiologische Forschung hat nachgewiesen, dass es zwischen Sprache und Körper unmittelbare Reaktionen gibt. So werden etwa bei einer metaphorischen Wendung wie „er hatte einen harten Tag“ somatosensorische Areale aktiviert; der Körper registriert die haptische Qualität der Metapher. Aber er ist dabei auch heikel. Auf eine abgegriffene Metapher wie „Günther ärgert sich zu Tode“, reagiert er in keiner Weise; es ist ihm offenbar bewusst, dass er weit davon entfernt ist, tatsächlich zu Tode zu kommen.

Fluchen

Also wählt Günther Sohm Metaphern mit garantierter Wirkung. „Füdlôgsicht“ schimpft er, „uusnahmsblöde Sau“ und ärgert sich kraftvoll darüber, wie „Bürschle mit Gamsbärt adô Hüot dur sLeabô trampland“. Er findet Wege aus dem Seitental, nicht nur verträumte wie im Land der Salamibäume, auch ganz reale. Wie wird man mit einem Polier auf der Baustelle fertig, der – um WC-Pausen zu minimieren – von jedem Arbeiter verlangt, „dass ar in Zuokunft gschiossna ga schaffa komm“? Wie reagiert man auf den Drill zum Fleißigsein, der schon in der Volksschule beginnt und keineswegs in der Pension endet? Denn „ma sey eabô nid zum Vrgnüogô ufr Wealt und falls doch dänn wohl kaum zum oagnô“. Und wie reagiert der Bub, der so gern Sekretärin werden möchte auf seines Großvaters Empfehlung, dann wenigstens Staatssekretär, „däs seyôn überwiogond aagseachne Herrô – däs sey eahm gliich hey däna Bimpf zörnôlat er well Sekretärin sii und nix anders“.
Die Vorarlberger Traditionen innewohnende Katholizität stößt bei Günther Sohm auf nichts als Skepsis. Wenn dem Weihnachtswunder eine 16-tägige Schwangerschaft vorausgeht, kann er nur sagen „do trägônd jó dMeersüüle viermól längr“. Warum sich Maria mit den Hirtenkindern von Fatima zufrieden gibt, ist ihm unverständlich, wo sie doch ein ORF-Studio für ihre Botschaft nutzen könnte. Und zu allgemeinen Fragen katholischer Moral zitiert er einen Freund: „viel Bier mach dick und Schnaps todkrank drómm sey er Kiffar Gott sei Dank“!
Eine leise Anarchie durchzieht die Erzählungen, eine laute Wertschätzung der Freuden des Alltags. Abgehoben sind sie dabei nie, dafür bürgt schon der Titel. Pitralon war einst ein Aftershave, bei dem nicht nur die Verpackung an ein „Maggifläschle“ erinnert. Es galt als penetrant, brachial, ungehobelt. Seit 30. 4. 2019 wird es nicht mehr produziert, und das muss man wirklich nicht bedauern. Die Bilder der Erinnerung, die es auslöst, sind sowieso viel besser!

Günther Sohm, Pitralon – 99 Einzelheiten, mit Fotos von Elfi Hofer und Günther Sohm, unartproduktion, Dornbirn 2019, ISBN 978-3-902989-32-1
Buchpräsentation: 8.6., 20 Uhr, TiK Dornbirn