Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Severin Holzknecht · 23. Nov 2021 · Literatur

„Geschichte ist die Essenz unzähliger Biografien“

Die Literaturgattung der Biografie stellte traditionell vor allem die „großen Männer“ – eher selten Frauen – in den Mittelpunkt und kam aufgrund dieser Einseitigkeit gegen Mitte des letzten Jahrhunderts zusehends in Verruf. In den vergangenen Jahrzehnten erlebte sie jedoch eine Renaissance. Der Fokus der Biografie lag nun jedoch vermehrt auf den „kleinen Leuten“. Diese Entwicklung bereicherte die Geschichtswissenschaften ungemein, denn wie schon der schottische Historiker und Essayist Thomas Carlyle scharfsinnig feststellte: Geschichte ist die Essenz unzähliger Biografien.

Meinrad Pichler versteht es wie kein zweiter Vorarlberger Historiker, Makro- und Mikrogeschichte miteinander zu verbinden und dadurch Zusammenhänge klar sichtbar zu machen. Er beschreibt in seiner ganz eigenen Art, wie sich die Handlungen einzelner Akteure auf die großen Entwicklungen auswirken. Diesem Anspruch wird Pichler auch in seinem neuesten Werk „Spurensuche“ gerecht. Er hat darin die Kurzbiografien von 27 Männern und Frauen in und aus Vorarlberg zusammengefasst, die das Land im 19. und 20. Jahrhundert auf verschiedenste Weise mitgestaltet und -geprägt haben. Es finden sich darin die Lebensbeschreibungen bekannter Persönlichkeiten wie dem Gendarmeriebeamten und Opfer des Nationalsozialismus Hugo Lunardon, dem Lehrer und Agitator für den Anschluss an die Schweiz Ferdinand Riedmann oder dem Arzt und Mundartdichter Caspar Hagen. Der Wert von „Spurensuche“ besteht aber vor allem in den Biografien von mehr oder weniger Unbekannten, die oftmals Außenseiterrollen einnahmen, am Rande der Gesellschaft verblieben und entsprechend schnell in Vergessenheit gerieten. Ein Beispiel hierfür ist der Trentiner Severino Colmano.

Ein Trentiner in Vorarlberg

Der 1872 im Valsugana geborene Severino Colmano wirkte in seiner Heimat zunächst als Gewerkschaftssekretär, bevor er in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges am Bregenzer Gymnasium unterrichtete. In Vorarlberg war Colmano wiederholt mit anti-italienischen Ressentiments konfrontiert, die sich mit Kriegsbeginn noch verstärkten. Noch vor der sich bereits abzeichnenden Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn floh er im April 1915 aus Vorarlberg und tauchte einige Zeit später in Mailand wieder auf. Er wollte nicht gegen andere Italiener kämpfen. Nach dem Krieg näherte sich der mittlerweile in Bozen lebende Colmano dem italienischen Faschismus an und wurde zum Vertreter der faschistischen Künstlervereinigung Bozens ernannt. Zum überzeugten Faschisten wurde Severino Colmano allerdings nie. Er starb 1959 in seinem Geburtsort Levico.

Eine Vorkämpferin der Sozialdemokratie

Der Einfluss von Frauen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen wird in der Geschichtsschreibung gerne vernachlässigt. Umso erfreulicher ist es, dass Meinrad Pichler in „Spurensuche“ die Biografien von zehn Frauen aufgenommen hat. Eine davon war die 1869 in Lauterach geborene Marie Leibfried. Leibfried spielte in der frühen sozialdemokratischen Bewegung Vorarlbergs eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Ehefrau und Vertraute des Sekretärs der Vorarlberger Arbeiterbildungsvereine Johann Coufal und später Hermann Leibfrieds, des Chefredakteurs des sozialdemokratischen Parteiorgans, der „Vorarlberger Wacht“, aber auch als engagierte Funktionärin in der Frauenorganisation der SDAP besaß Marie Leibfried einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung der frühen Sozialdemokratie im Lande. Gewürdigt wurde dieser Einsatz jedoch nur bedingt. Leibfried litt nicht nur unter den für die Zeit üblichen Schikanen gegenüber Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, sondern musste auch die frauenfeindlichen Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie erdulden. Bei den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 wurde sie beispielsweise im Bezirk Feldkirch nur auf dem aussichtslosen Platz 10 gereiht. Ein Affront. Schmerzhaft wie unverdient.

Ein ungebrochener Antifaschist

In „Spurensuche“ findet sich mit der Kurzbiografie von Walter Kareis zudem ein bemerkenswertes Beispiel für Überlebenswillen und Widerstandsgeist im Angesicht nationalsozialistischer Verfolgung. Walter Kareis war ein ausgebildeter Fernmelder, der in den 1930er-Jahren als Brückenplaner in Usbekistan zu Ansehen gelangte und in Vorarlberg beim Aufbau des Telefonnetzes mitwirkte. Als Kommunist und „Halbjude“ wurde Kareis nach dem „Anschluss“ zunehmend drangsaliert und im Herbst 1944 in das Zwangsarbeiterlager Schelditz, ein Außenlager des KZ Buchenwald, verschleppt. Der Todesmarsch von Schelditz nach Flossenbürg im April 1945 blieb Kareis erspart, er war bereits im Vormonat in ein Gestapo-Gefängnis in Gera verlegt worden. Die Geheime Staatspolizei warf ihm „zersetzende Propaganda“ und Fluchthilfe vor. Gemeinsam mit seinem Bregenzer Mithäftling Alfred Neurauter gelang Kareis im April die Flucht und die beiden gelangten auf abenteuerlichen Wegen und mit gefälschten Entlassungsscheinen nach Bregenz. Nach Kriegsende gehörte Walter Kareis als einer von zwei Kommunisten dem ersten Bregenzer Nachkriegsstadtrat an, bevor er ab 1946 wieder für das Telegrafenamt arbeitete.

„Spurensuche“

Meinrad Pichler neuestes Werk ist informativ und kurzweilig. Pichlers Anspruch war nach eigener Aussage, „die Fährte von Personen“ aufzunehmen, „die Vorarlberg aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben“ oder „aus anderen Regionen zugewandert sind“. Er wollte mithilfe dieser 27 Kurzbiografien seinen Leserinnen und Lesern die bewegte Geschichte Vorarlbergs des 19. und 20. Jahrhunderts und die für das Land charakteristische demografische Dynamik und Mobilität vermitteln. Dies ist ihm gelungen. „Spurensuche“ ist ein kleines, aber feines Buch, das die Bücherregale der historisch interessierten Vorarlbergerinnen und Vorarlberger positiv ergänzen wird.

Meinrad Pichler, Spurensuche: Historische Biografien aus Vorarlberg. Russmedia Verlag, 2021, 180 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3852580715, € 24